Rehabilitation

2. Bericht über Verstöße gegen die Regelungen zur Gleichstellung behinderter Menschen durch Behörden und andere öffentliche Stellen

Der vorliegende Bericht über Verstöße gegen die Regelungen zur Gleichstellung behinderter Menschen umfasst den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 31. Mai 2007. In ihm spiegeln sich zahlreiche Probleme wider, die im Berichtszeitraum diskutiert wurden, jedoch bisher zu keiner befriedigenden Lösung geführt werden konnten:

Im Bereich Arbeit und Soziales

Probleme bei der Umsetzung des Fallmanagements Eines der großen Reformprojekte der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales verbirgt sich hinter dem Namen „Modellsozialamt 2005 / Einführung des Fallmanagements in der Eingliederungshilfe". Die Notwendigkeit der Reform erschließt sich aus dem Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik, der von den Menschen mit Behinderung und ihren Organisationen seit vielen Jahren gefordert und mit der Schaffung des SGB IX 2001 sowie mit der Verabschiedung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes 2002 Eingang in die Gesetzgebung gefunden hat und somit zumindest in rechtlicher Hinsicht vollzogen worden ist.

Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik heißt, die Menschen mit Behinderung nicht länger als Objekte der Fürsorge zu verwalten und zu versorgen, sondern sie als gleichberechtigte Bürger/innen anzuerkennen und ihnen die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren. Dazu gehört auch eine neue Sichtweise auf die Leistungsgewährung bzw. die Ermittlung des Hilfebedarfs, die im „Handbuch für Fallmanager/innen der Eingliederungshilfe nach SGB XII" ausführlich dargelegt wird. Danach soll das Fallmanagement in der Sozialhilfe „ März 2007 rechtlich verbindlicher Verfahrensstandard.

Der Träger der Sozialhilfe ist damit verpflichtet, gemeinsam mit dem Betroffenen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuches personenbezogen und bedarfsgerecht zu planen und bereitzustellen. Im Unterschied zur Sachbearbeitung steht beim Fallmanagement nicht die schriftliche Vorgangsbearbeitung, sondern die Kommunikation mit dem Menschen mit Behinderungen sowie den beteiligten Akteuren des individuellen Netzwerks im Vordergrund. Nach sorgfältiger Bedarfsermittlung über abgesicherte Standards und Verwaltungsverfahren sowie Dokumentation im Gesamtplan gem. § 58 SGB XII entscheiden Fallmanagerinnen und Fallmanager als zuständige Mitarbeiter/innen des Trägers der Sozialhilfe entsprechend der gesetzlichen Kompetenzzuweisung über die Leistungsgewährung.

Aus dem Verstößebericht der vorangegangenen Jahre 2005/2006 resultierend haben sich die Bezirksämter im Rahmen der Verhandlungen zur Zielvereinbarung im Fallmanagement für das Jahr 2008 bereits auf die Dokumentation und Messung einheitlicher Qualitätsziele z. B. im Hinblick auf Kundenorientierung geeinigt. Die Verfahrensqualität im Fallmanagement soll damit zunehmend verbessert werden.

Aus dem jüngsten Verstößebericht ergeben sich keine konkreten Hinweise auf „strukturel9 sichtigen und passgenaue Hilfen bereitzustellen. Dabei treten die Leistungsbezieher/innen mehr und mehr als Kunden/innen in Erscheinung, die selbst darüber mitentscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen und welche Hilfen sie in welcher Form, an welchem Ort und durch wen benötigen.

So gesehen ist die Einführung des Fallmanagements in der Eingliederungshilfe ein großer Fortschritt in Bezug auf die Emanzipation der behinderten Menschen und stellt einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der modernen Behindertenpolitik dar.

Probleme ergeben sich aber aus der Umsetzung des Konzepts, die in diesem Bericht darzustellen sind. Sie betreffen auf der allgemeinen Ebene strukturelle Schwächen des Reformansatzes sowie auf der konkreten Ebene z.T. gravierende Umsetzungsschwierigkeiten in den Bezirken.

Ungünstig wirkt sich aus, dass dieses wichtige Reformvorhaben von Anfang an auch unter Einspargesichtspunkten diskutiert worden ist und die Konzeption sogar Sparvorgaben, die zu erreichen sind, formuliert. Dies führt gegenüber dem Fallmanagement bzw. den Fallmanager/innen zu großer Skepsis und Misstrauen bei den betroffenen Menschen, die permanent fürchten, dass bisherige Leistungen gekürzt werden könnten. Zugleich besteht durch die ständige Spardiskussion in der Öffentlichkeit ein gewisser politischer Druck auf die Fallmanager/innen, dem sich diese nicht immer entziehen können und der möglicherweise im Einzelfall zu nicht sachgerechten Entscheidungen führen könnte.

Eine andere Schwäche wird von den betroffenen Menschen vielfach in der den Fallmanager/innen zugedachten Allmacht gesehen.

Wenn einerseits im Handbuch ausdrücklich immer wieder betont wird, dass bei der Leistungsgestaltung der hilfebedürftige Mensch im Mittelpunkt stehe, die Hilfeplanung nur mit ihm zusammen und nicht ohne oder gar gegen ihn erarbeitet werden solle und es nicht vorrangig um Einsparungen, sondern um das Recht der betroffenen Menschen auf passgenaue Hilfen gehe, so können an diesen Aussagen Zweifel aufkommen, wenn es im Handbuch an anderer Stelle heißt: „Ihm [dem Fallmager/der Fallmanagerin] obliegt somit die zentrale Rolle und Entscheidungskompetenz in der Eingliele Schwächen des Reformansatzes auf der allgemeinen Ebene". Die Kompetenzen des Trägers der Sozialhilfe ergeben sich aus der gesetzlichen Kompetenzzuweisung nach dem Sozialgesetzbuch und sind insoweit kein Novum, das in Zusammenhang mit der Einführung des Fallmanagement steht. Die Mitarbeiter/innen des Sozialamtes sind zudem hinsichtlich der Unabhängigkeit ihrer Beratungsfunktion an die Vorgaben des § 14 SGB I gebunden. Zur Ausführung der Sozialleistungen verpflichtet § 17 SGB I den Träger der Sozialhilfe darauf hinzuwirken, das jeder Berechtigte die ihm zustehenden Leistungen umfassend und zügig erhält. In § 10 SGB IX ist die Koordinierungsfunktion des federführenden Rehabilitationsträgers geregelt. Diese Gesetzesaufträge kann der Träger der Sozialhilfe nur erfüllen, wenn er durch innerorganisatorische Maßnahmen wie z. B. der Zusammenführung von Handlungs-, Entscheidungs- und Finanzverantwortung in einer Hand, Qualifizierung der Mitarbeiter/innen, Gewährleistung einer angemessenen Aktenrate und einheitliche Verfahrensstandards darauf reagiert. Dies wird über die Zielvereinbarung über die Einführung des Fallmanagements zwischen Senat und Bezirksämtern einvernehmlich und einheitlich für ganz Berlin gewährleistet.

Die Dynamik der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen stellt bundesweit die Träger der Sozialhilfe vor immer größere Herausforderungen hinsichtlich ihrer Finanzierbarkeit.

Die Einführung von Fallmanagement ist ­ neben anderen- eine wirkungsvolle Reaktion, um damit angemessen umgehen zu können.

Letztlich geht es bei der Einführung des Fallmanagements und zielorientierter Leistungsund Ausgabensteuerung auch um transparente, bewusster eingesetzte und zielgenauer als bisher verwendeter Finanzmittel. Mehr Transparenz und Steuerung in der Eingliederungshilfe ist aber auch eine unabdingbare Legitimationsgrundlage, um in der öffentlichen Diskussion um die Verteilung knapper Finanzmittel zugunsten der Eingliederungshilfe bestehen zu können. Insoweit kommt einer erfolgreichen Implementierung des Fallmanagements eine Schlüsselrolle hinsichtlich der zukünftigen Absicherung der Eingliederungshilfe zu.

Die vorgeschlagene Einrichtung eines „Ombudsrates" wurde mit dem Landesbeirat für Menschen mit Behinderung und den zustän10 derungshilfe. Der Fallmanager entscheidet über die zu erreichenden Ziele der Hilfeleistungen sowie das „ob", „wann", „wie" und „wie lange" von Maßnahmen und Ausgaben." (Handbuch, S. 18) Konkrete Beanstandungen:

Aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg sind zwei Vorgänge bekannt geworden, bei denen offensichtlich nicht der Mensch und dessen tatsächlicher Hilfebedarf im Vordergrund stehen, sondern der Versuch, Einsparungen zu Lasten der betroffenen Menschen zu erzielen.

Einer an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Frau mit progredientem Verlauf, d.h. zunehmender Verschlechterung des Gesundheitszustandes werden im Juli 2006 auf Antrag zunächst für 2 Wochen 12 Stunden Assistenz pro Tag nach Leistungskomplex 32 (LK 32 ­ Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII) bewilligt und anschließend nur noch 10 Stunden mit der Maßgabe, die 12 Stunden erneut zu gewähren, sobald der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) die Pflegestufe 3 (bis dahin Pflegestufe 2) feststellen sollte. Diese Zusage wurde jedoch nicht eingehalten, obwohl der MDK im Oktober 2006 tatsächlich die Pflegestufe 3 anerkannt und in seinem Gutachten die 12 Stunden täglich befürwortet hat.

Trotz weiterer Verschlechterung des Gesundheitszustandes und eines auch mit 12 Stunden inzwischen eher zu knapp bemessenen Hilfeumfangs werden weiterhin nur 10 Stunden gewährt. Damit ist für die betroffene Assistenznehmerin eine Teilnahme am Leben in ihrer Kirchengemeinde und im Chor nicht mehr möglich und es wird sogar der Verbleib in der eigenen Wohnung in Frage gestellt.

Der zweite Vorgang zieht sich schon länger hin und wurde bereits im 5. Verstößebericht 2005/06 erwähnt. Dort heißt es: „In einem anderen Fall wurde bei einer querschnittgelähmten Frau mit einem seit Jahren nachgewiesenen und anerkannten Assistenzbedarf von 18 Stunden der Umzug von Neukölln nach Tempelhof-Schöneberg zum Anlass genommen, die Hilfe um ein Drittel auf 12 Stunden zu kürzen ­ allerdings unter dem Vorbehalt einer erneuten Begutachtung durch das Gesundheitsamt, die dann schließlich einen notwendigen Hilfebedarf von 16 Stunden zum Ergebnis hatte. Abgesehen davon, dass auch die Kürzung um zwei Stunden für die betroffedigen Bezirksstadträt/innen für Soziales diskutiert. Vorläufig wird man laut Beschluss des Landesbeirates vom 2. Mai 2007 dem gesetzlichen Beratungsauftrag entsprechend auf die bezirklichen Beauftragten für Menschen mit Behinderung als Schiedsstelle für Beschwerdefragen zurückgreifen.

Nach einer Probephase bis zum Ende dieses Kalenderjahres wird über die Einrichtung eines „Ombudsrates" erneut abgestimmt werden. Besondere Beachtung sollte im Hinblick auf die Vermeidung von Parallelstrukturen das bereits bestehende Aufgabenprofil der Bezirksbeauftragten für Menschen mit Behinderung finden. Denn § 7 des Landesgleichberechtigungsgesetzes bestimmt sie bereits zu Ansprechpartner/innen für Vereine, Initiativen und sonstige Organisationen, die sich mit Fragen im Zusammenhang mit der Lebenssituation behinderter Menschen befassen, sowie für Einzelpersonen bei auftretenden Problemen. Darüber hinaus kann sich jeder Mensch mit Behinderungen, wenn er sich in seinen Rechten verletzt fühlt, auch an den Landesbeauftragten selbst wenden. Der § 7 Abs. 6 des Landesgleichberechtigungsgesetzes verleiht dem Landesbeauftragten zudem gegenüber allen Behörden des Landes Berlin ein gesetzliches Auskunfts- und Beanstandungsrecht. Inwiefern ein davon abgekoppelter „Ombudsrat" neben oder entlastend zu den bestehenden Gremien mit Beratungs- und Beschwerdefunktion weiterführend wirksam werden könnte, sollte letztlich anhand des tatsächlichen Beschwerdeaufkommens zu gegebener Zeit überprüft werden.

Bisher haben sich die bestehenden Strukturen als wirksam erwiesen. Ich empfehle aber im Zuge von Öffentlichkeitsarbeit verstärkt bei den Menschen mit Behinderung für die durch Gesetz abgesicherte Funktion der Bezirksbeauftragten und des Landesbeauftragten als niedrigschwellige Beratungs- und Beschwerdestelle zu werben.

Stellungnahme des Bezirksamts MarzahnHellersdorf

Die beanstandete Passage des Handbuchs (Seite 18) zur Rolle des Fallmanagers/der Fallmanagerin „Ihm obliegt somit die zentrale Rolle und Entscheidungskompetenz in der Eingliederungshilfe.