Sachverständigengutachten

Hier hakte die über diese Mitteilung informierte Frau Rybczyk mehrfach nach und erfuhr, dass eine am 09.03.1947 vermutlich von Werner Hagemann, einem Neffen des Sammlers Carl Hagemann, erstellte Liste existiere, die 79 Bilder aus der ehemaligen Sammlung Carl Hagemann enthalte. Herr Delfs legte dar, dass diese Liste als sehr zuverlässig zu betrachten sei, da in einem früheren Zusammenhang eine detaillierte Untersuchung angestellt worden sei, in der die Aussagen der Liste mit originalen Kaufbelegen bzw. deren direkten Abschriften verglichen wurden, soweit diese erhalten waren. Dabei hätten sich bei Berücksichtigung von zwei leicht erkennbaren Titelverwechslungen insgesamt 109 Daten (Erwerbungsjahr, Provenienz, Preis) ergeben, für die überhaupt noch Vergleichsdaten den Kauf belegen und deren Abschriften erhalten seien. Von diesen 109 Daten hätten 108 exakt übereingestimmt, in einem Falle sei bei einem Preis eine Abweichung von 10 Prozent feststellbar gewesen, die vermutlich auf eine Provision zurückzuführen sei. Diese Liste enthalte zu dem betreffenden Gemälde folgende Angaben: „Kirchner, Berliner Straßenszene, 1937, Kölner Kunstv., 3000". Rechtsanwalt Schnabel stellt in seinem Gutachten die Aussagefähigkeit dieser Liste in Frage, weil in ihr lediglich der „Wert 3000" ohne die Angabe enthalten sei, um welche Währung (Reichsmark, Schweizer Franken?) es sich handele und wann die Wertermittlung erfolgt sei. Es handele sich nicht um ein echtes zeitgenössisches Dokument, sondern um eine sieben Jahre nach dem Tode Hagemanns von dessen Erben zum Zwecke der Erbauseinandersetzung erstellte Liste.

Für die Höhe des Kaufpreises lag damit kein zeitgenössisches Dokument vor.

Für die Prüfung von Frau Rybczyk war die Korrespondenz mit Herrn Delfs in diesem Zusammenhang die Grundlage; in einem Vermerk vom 6. Oktober 2005 stellte sie in kritischer Auseinandersetzung mit einem im Auftrag der Kulturverwaltung erstellten Gutachten von Rechtsanwalt von Trott zu Solz fest, dass aus der Liste zu entnehmen sei, dass Carl Hagemann das Gemälde im Jahr 1937 vom Kölner Kunstverein zum Preis von 3000 Reichsmark erworben habe.

Außerdem hat die Kulturverwaltung Herrn Rechtsanwalt von Trott zu Solz am 17. August 2005 mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens beauftragt.

Rechtsanwalt von Trott zu Solz führt in seinen rechtlichen Darlegungen aus, dass das Land Berlin zu beweisen habe, dass der Kaufpreis angemessen war. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gelte, dass nach Artikel 3 Abs. 2 REAO als angemessen ein Geldbetrag anzusehen sei, den ein Kauflustiger zu zahlen und ein Verkaufslustiger anzunehmen bereit gewesen wäre. Damit sei der Sache nach der objektive Verkehrswert angesprochen. Dieser Verkehrswert sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie durch konkrete Vergleichsverkäufe und/oder anhand eines Sachverständigengutachtens zu ermitteln.

Das Land Berlin müsse also anhand von Vergleichsverkäufen nichtjüdischer Kunstbesitzer beweisen, dass derselbe Kaufpreis auch erzielt worden wäre, wenn der Verkäufer nicht aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen gezwungen gewesen wäre, Teile seiner Kunstsammlung zu veräußern.

Ein Sachverständigengutachten zu dieser Frage wurde von der Senatsverwaltung jedoch entgegen diesem Rat nicht in Auftrag gegeben.

In ihrem Vermerk vom 6. Oktober 2005 geht Frau Rybczyk im Ergebnis der durchgeführten Recherchen davon aus, dass von der Angemessenheit des Kaufpreises auszugehen sei. Sie verweist auf einen Brief des Kunsthändlers Arnold Budczies an Carl Hagemann vom 25.03.1937, in dem dieser Carl Hagemann zum Erwerb des Kirchnerbildes gratuliert und dabei feststellt: „... freilich ist der Preis sehr hoch."

Dass es sich tatsächlich um einen hohen Kaufpreis gehandelt habe, sei auch von Frau Professor Dr. Moeller und Herrn Dr. von Lüttichau (Vorstandsmitglied des Folkwang Museums Essen) bestätigt worden.

Im Gutachten Schnabel/Dr. Tatzkow wird die Angemessenheit dieses Preises in Frage gestellt. Anhand von Beispielen wird ausgeführt, dass für vergleichbare Kirchner-Gemälde, die bis 1914 entstanden, wesentlich höhere Kaufpreise oder Versicherungswerte festgestellt wurden (zwischen 4.000 und 18.000 Reichsmark).

Allerdings ergibt sich aus den Unterlagen der Senatsverwaltung, dass es auch unter diesem Kaufpreis liegende Schätzwerte gab: So wurde der Versicherungswert der „Berliner Straßenszene" im Zusammenhang mit dem Transport von Zürich nach Köln mit 3000 Schweizer Franken angegeben, was einem Wert von 1500 bis 2000

Reichsmark entsprochen haben dürfte.

In einem Brief des Direktors des Kunsthauses Zürich, Herrn Wartmann, an Thekla Hess vom 4. September 1936 zitiert er deren Bitte, die Bilder nach Köln zu schicken. Hier schreibt er auch, er habe den Versicherungswert anhand des von ihr selbst genannten Verkaufspreises von 1934 geschätzt.

Schließlich ergibt sich auch aus dem Gutachten Schnabel/Dr. Tatzkow selbst, dass der Ausstellungskatalog der Ausstellung „Neue deutsche Malerei" im Züricher Kunsthaus vom 21.06. bis 15.07.1934 für die Mehrzahl der Bilder Preisangaben auswies, darunter für das dort als „Großstadtstraße, Paris" bezeichnete Bild „Berliner Straßenszene" einen Preis von 2500 Schweizer Franken, was sogar einem Wert von weniger als 2000 Reichsmark entsprach.

An dieser Stelle des Gutachtens werden auch zwei weitere Kaufpreise genannt, die als Indiz dafür gewertet werden können, dass es sich bei dem von Carl Hagemann angeblich gezahlten Kaufpreis in Höhe von 3000 Reichsmark um einen marktüblichen gehandelt haben könnte: Auf Seite 26 des Gutachtens wird geschildert, wie dem Juristen, Kunstsammler und Amateurgrafiker Arnold Budczies von der Galerie.

Dies wurde allerdings auch deshalb unterlassen, weil Frau Rybczyk die Beweisführung zu der weiteren Frage, ob der Abschluss des Rechtsgeschäfts seinem wesentlichen Inhalt nach auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus stattgefunden hätte, letztlich nicht für möglich erachtete ­ dazu später.

Thannhauser der „Potsdamer Platz" für einen Preis von 3500 Reichsmark angeboten worden sei. Weiter wird ausgeführt, dass sich die Sammler Budczies und Hagemann „auch über andere sehr gute Bilder von Kirchner" ausgetauscht hätten, z. B. am 26.04.1936, als Budczies von der Erwerbsmöglichkeit einer Straßenszene „Zwei Frauen auf der Straße", 1914, berichtet und sie als „ein sehr gutes Bild, früher im Besitz von Westheim" bezeichnet habe. Dabei sei sowohl die Preisangabe [des früheren Erwerbers] ­ 2000 Reichsmark ­ als auch die Erwartung von Budczies, das Gemälde könne „jetzt beträchtlich billiger zu haben sein", interessant.

Die Schwierigkeit bei der Bewertung von Preisangaben dieser Zeit besteht natürlich grundsätzlich darin, dass damals eine Vielzahl von Werken aus dem Besitz geflüchteter jüdischer Sammler auf den Markt kamen, die nicht unbedingt zu Preisen verkauft wurden, wie sie vor oder nach der Zeit des Nationalsozialismus ohne wirtschaftlichen Druck der ursprünglichen Eigentümer möglich gewesen wären.

Aber gerade die Angaben in dem eben erwähnten Brief von Arnold Budczies an Carl Hagemann sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, weil hier der frühere Marktpreis genannt und in Beziehung zu den erwarteten verfolgungsbedingt niedrigeren Preisen zur Zeit des Nationalsozialismus gesetzt wird. Hieraus kann durchaus der Schluss gezogen werden, dass ein Preis von 2 ­ 3000 RM auch außerhalb der Zeit des Nationalsozialismus ein guter Preis gewesen sein muss.

Diese Vermutung wurde im Übrigen im Rahmen der Ermittlungen des Sonderausschusses unterstützt durch die Aussage der hierzu befragten Kunsthistorikerin und Spezialistin für den deutschen Expressionismus, Frau Feilchenfeldt, die erklärte, dass ein Preis von 3000 Reichsmark mehr gewesen sei, als ein Bild eines expressionistischen Künstlers zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Land Europas oder in Amerika hätte erzielen können.

Auch der Leiter des Ernst-Ludwig-Kirchner-Archivs in der Schweiz, Herr Dr. Henze, hatte in seiner Stellungnahme vor dem Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten des Abgeordnetenhauses von Berlin am 28. August 2006 bereits ausgeführt, dass sich aus den Unterlagen und Aufzeichnungen von Kirchner eindeutig entnehmen lasse, dass 3000 Reichsmark das Höchste gewesen sei, was dieser jemals für ein Gemälde gefordert habe.

bb) Erhalt des Kaufpreises und freie Verfügbarkeit:

Schließlich musste die Senatsverwaltung nachweisen, dass Thekla oder Hans Hess den Kaufpreis auch erhalten hatten und frei über ihn verfügen konnten.

Es lagen weder der Verwaltung bei ihrer Prüfung, noch dem Sonderausschuss Erkenntnisse vor, dass der Eigentümer Herr Hans Hess oder Frau Thekla Hess das Geld erhalten haben.