Forschung

Abgeordnetenhaus von Berlin Teil B Drucksache 16/1100

­ 16. Wahlperiode ­ Abweichender Bericht

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 hatte zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowohl bei Alfred Hess persönlich als auch bei der M. & L. Hess Schuhfabrik AG geführt.

Sein Sohn Hans Hess, der bis dahin Leiter der Werbeabteilung der M. & L. Hess Schuhfabrik AG war, gab diese Stellung auf und wurde zu deutlich niedrigerer Bezahlung Angestellter in der Werbeabteilung des Berliner Ullstein-Verlages.

Thekla Hess schlug nach dem Tod ihres Mannes die zu diesem Zeitpunkt mit 0 RM geschätzte Erbschaft aus und verlegte ihren Wohnsitz einschließlich der Kunstsammlung an ihren Geburtsort Lichtenfels in Bayern. Hans Hess verließ Deutschland im Jahr 1933 und lebte in Paris und London. Thekla Hess emigrierte im April 1939 ebenfalls nach England; bis dahin verbrachte sie viel Zeit im europäischen Ausland, kehrte aber immer wieder nach Deutschland zurück.

Aufgrund eines „Privatabkommens" mit ihrem Sohn konnte Frau Hess zu ihren Lebzeiten über die Kunstsammlung frei verfügen.

Am 25. März 1958 stellte Hans Hess einen Antrag auf Rückerstattung nach dem Bundesrückerstattungsgesetz für die Kunstsammlung. Eingereicht wurde eine Liste über Gemälde, Aquarelle und Grafiken namentlich aufgeführter Künstler, nicht aber die konkreten Kunstwerke. Dieser Antrag wurde durch den beauftragten Rechtsanwalt am 5. Juli 1961 zurückgenommen.

Bereits am 19. August 1957 hatte Hans Hess einen Antrag auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz gestellt. Das Wiedergutmachungsverfahren endete ­ nach Rücknahme des Antrags auf Rückerstattung vom 25. März 1958 am 5. Juli 1961 ­ mit einem Vergleich zwischen Hans Hess und dem Entschädigungsamt Berlin vom 8. Juli 1961. Danach erhielt Hans Hess pauschal eine Entschädigung für die erlittenen Vermögensverluste in Höhe des Höchstsatzes von 75.000 DM.

Ein Antrag auf Rückerstattung nach alliierten Rückerstattungsbestimmungen bis 1950 wurde nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht gestellt.

2) Grundlagen der Restitutionsentscheidung

Das Rückgabeersuchen der Rechtsanwaltskanzlei Schink & Studzinski wurde ausschließlich auf folgende außergesetzlichen Rückerstattungsgrundsätze gestützt (siehe Anlagen):

- Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden, veröffentlicht im Zusammenhang mit

Nach den Ermittlungen von Schnabel/Dr. Tatzkow, Gutachten zu den historischen und juristischen Grundlagen zur Rückgabe des Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner „Berliner Straßenszene" durch das Land Berlin vom Mai 2007

­ im Folgenden „Gutachten", war Hans Hess von Oktober 1932 bis Juni 1933 im Ullstein-Verlag tätig.

Schreiben von Hans Hess an seinen Rechtsanwalt Graf von Pueckler vom 7. Oktober 1957, SenWissKult, Bl. 473 f.

Siehe Schreiben Hans Hess vom 7. Oktober 1957 an seinen Rechtsanwalt Graf von Pueckler, aaO: „Dass meine Mutter in Zürich als Eigentuemerin auftrat, erschwert hoffentlich Ihre Arbeit nicht. Es geschah dies auf Grund eines Privatabkommens mit meiner Mutter, in dem ich als legaler Alleinerbe ihr die Sammlung zu ihren Lebzeiten zur Nutzniessung ueberliess, da wir einig waren, dass moralisch sie den Anspruch habe und ich der Alleinerbe nur aus formellen Gruenden geworden war ­ nachdem sie, nach dem Tod meines Vaters die Erbschaft ausschlug, um unserem Anwalt Zeit zu geben, den Nachlass zu regeln." Abgeordnetenhaus von Berlin Teil B Drucksache 16/1100

­ 16. Wahlperiode ­ Abweichender Bericht der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust, Washington D. C., 3. Dezember 1998 (Anlage 3, im Folgenden „Washingtoner Erklärung" genannt);

- Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz, vom Dezember 1999 (Anlage 4, im Folgenden „Gemeinsame Erklärung" genannt);

- Handreichung vom Februar 2001 zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz", vom Dezember 1999 (Anlage 5, im Folgenden „Handreichung" genannt).

Durch die Washingtoner Erklärung sollte der Versuch unternommen werden, außergesetzliche Grundsätze zu vereinbaren, die zur Lösung offener Fragen und Probleme im Zusammenhang mit den durch die Nationalsozialisten beschlagnahmten Kunstwerken beitragen können. Wesentliche Feststellung dabei war, dass Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, identifiziert werden sollten. Weiter sollten alle Anstrengungen unternommen werden, die identifizierten Kunstwerke zu veröffentlichen, um so die Vorkriegseigentümer oder ihre Erben ausfindig zu machen. Auf dieser Grundlage sollten „rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden". Angesichts der unterschiedlichen Rechtssysteme der Teilnehmerstaaten wurden diese dazu aufgerufen, innerstaatliche Verfahren zur Umsetzung dieser Richtlinien zu entwickeln.

In der Bundesrepublik Deutschland waren Ende der 90er Jahre die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Rückerstattungs- und Entschädigungsverfahren unter den Voraussetzungen der alliierten Rückerstattungsregelungen, später des Bundesrückerstattungsgesetzes sowie des Bundesentschädigungsgesetzes und ­ nach der Wiedervereinigung ­ des Vermögens- sowie des NS-VerfolgtenEntschädigungsgesetzes weitgehend abgeschlossen durch materielle Wiedergutmachungen oder durch Globalabfindungsvergleiche mit den unmittelbar Geschädigten bzw. deren Rechtsnachfolgern oder mit stellvertretend eingesetzten Nachfolgeorganisationen. Dennoch schloss die Bundesrepublik sich der Washingtoner Erklärung an, deren Umsetzung für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene mit der Gemeinsamen Erklärung vom 14.

ezember 1999 vereinbart wurde.D

Im Unterschied zu den bisherigen Rechtsverfahren, die auf Antrag Geschädigter oder deren Erben oder von Nachfolgeorganisationen eingeleitet wurden, sollte nunmehr umgekehrt von staatlicher Seite aus darauf hingewirkt werden, dass Kulturgüter, die als NS-verfolgungsbedingt entzogen identifiziert und bestimmten Geschädigten zugeordnet werden konnten, nach individueller Prüfung den legitimierten früheren Eigentümern bzw. deren Erben zurückgegeben oder entschädigt würden. Der Wortlaut der Gemeinsamen Erklärung geht dabei über den der Washingtoner Erklärung hinaus, wenn von verfolgungsbedingter Entziehung anstelle von Beschlagnahmung gesprochen Abgeordnetenhaus von Berlin Teil B Drucksache 16/1100

­ 16. Wahlperiode ­ Abweichender Bericht wird.

Den betroffenen Einrichtungen wird empfohlen, „mit zweifelsfrei legitimierten früheren Eigentümern bzw. deren Erben über Umfang sowie Art und Weise einer Rückgabe oder anderweitige materielle Wiedergutmachung (z. B. gegebenenfalls in Verbindung mit Dauerleihgaben, finanziellem oder materiellem Wertausgleich) zu verhandeln, soweit diese nicht bereits anderweitig geregelt sind (z. B. durch Rückerstattungsvergleich)". Abschließend wird festgestellt, dass sich die Gemeinsame Erklärung als Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen auf die öffentlich unterhaltenen Archive, Museen, Bibliotheken und deren Inventar beziehe. Jedoch werden auch privatrechtlich organisierte Einrichtungen und Privatpersonen aufgefordert, sich den niedergelegten Grundsätzen und Verfahrensweisen anzuschließen.

Die Handreichung vom Februar 2001 wurde als Hilfe zur Umsetzung der Washingtoner Grundsätze und der Gemeinsamen Erklärung von einer Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände mit Unterstützung aus den Bereichen Museen, Bibliotheken und Archiven erarbeitet und von der Kultusministerkonferenz, vom Deutschen Städtetag, vom Kulturausschuss des Deutschen Landkreistages sowie vom Deutschen Städte- und Gemeindebund beschlossen. In einer Vorbemerkung wird festgestellt, dass die Erläuterungen als Orientierungshilfe für die betroffenen Institutionen gedacht seien, die eigenverantwortliche Zuständigkeit der jeweiligen Einrichtungen bzw. deren Träger für alle damit zusammenhängenden Entscheidungen bleibe jedoch unberührt. Betont wird weiter, dass ein reaktiver Ansatz in diesem Zusammenhang nicht reiche; die Sammlungen der öffentlichen Hand sollten vielmehr aktiv anhand der ihnen zugänglichen Dokumente unter Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstandes mögliche Verdachtsfälle in ihren Beständen ermitteln und aktiv einer Lösung zuführen. Zur Verdeutlichung werden Hinweise gegeben, anhand welcher Indizien Verdachtsfälle aufgefunden werden können. Es ist also festzuhalten, dass die in diesem Zusammenhang zu treffenden Entscheidungen für jeden Einzelfall und auf dem Hintergrund der Geschichte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates gefunden werden müssen. Bei der Handreichung handelt es sich um eine Erläuterung, wie die zwischenstaatlich vereinbarten Ziele vernünftig, systematisch und mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln erreicht werden können.

Daher wird den betroffenen Einrichtungen mit der Handreichung zur Bearbeitung konkreter Fälle abschließend ein Prüfraster auf der Grundlage von Artikel 3 der Alliierten Anordnung BK/O (49) 180 für Großberlin vom 26.07.1949 (Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen ­ REAO ­)6 mit detaillierten Erläuterungen zur Verfügung gestellt unter dem Hinweis, dass es sich dabei nicht um ein verbindliches rechtliches Regelwerk handele, weil es auf dem Rechtsweg durchsetzbare Rechtsansprüche auf Herausgabe von Kulturgütern, deren Besitz während der NS-Zeit verloren ging, in der Regel nicht mehr gebe. Da sich das Prüfraster aber an ursprünglichen alliierten Festlegungen und an den späteren bundesrepublikanischen Gesetzen orientiert, solle es als

Auch in anderen Ländern wird die Washingtoner Erklärung durchaus so weit ausgelegt, siehe Nachweise bei Schnabel/Dr. Tatzkow, Gutachten, S. 63 ff.