Das psychiatrische Hilfesystem

Das psychiatrische Hilfesystem orientiert sich u. a. an den Grundsätzen:

- Der Bezirk trägt als Pflichtversorgungsregion Verantwortung für die Ausgestaltung des regionalen psychiatrischen Hilfesystems. Dies bedeutet, dass die Bürger eines Bezirks in diesem auch alle psychiatrischen Unterstützungsleistungen erhalten sollen, ohne das Wunsch- und Wahlrecht der Klientin oder des Klienten einzuschränken. Regionale Pflichtversorgung setzt eine verbindliche, transparente Kooperation und Abstimmung zwischen allen Beteiligten im Bezirk voraus. Die bezirklichen Angebote sind flexibel organisiert und orientieren sich in ihrer Gestaltung an den bezirklichen Bedarfen. Daher sind sie je nach Bezirk unterschiedlich, wobei die allgemeinen Standards für alle Einrichtungen gleichermaßen gelten.

o. Die Versorgung der am schwersten seelisch behinderten Menschen steht im Vordergrund und ist Ausgangspunkt regionaler psychiatrischer Versorgungsverpflichtung.

o. Die Hilfeleistungen orientieren sich am jeweiligen konkreten individuellen Hilfebedarf der seelisch behinderten Menschen.

o. Der Vorrang ambulanter vor stationären Hilfen berücksichtigt die Aufrechterhaltung natürlicher Lebensbezüge sowie die Erhaltung und Erweiterung persönlicher Stärken und der Selbstbestimmung. Zudem sind bei der Vergabe von Hilfen immer die Hilfeformen vorzuziehen, die am ehesten dem „Normalitätsprinzip" entsprechen. Insofern sind psychiatrische Hilfen nachrangig.

o. Die Hilfegewährung erfolgt unter Mitwirkung und Beteiligung der seelisch behinderten Menschen und berücksichtigt deren Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Angeboten/Einrichtungen.

Ein großer Teil psychisch kranker Menschen lebt in der gewohnten Umgebung und wird häufig von Partnerinnen/Partnern bzw. den eigenen Angehörigen unterstützt. Diese leisten wertvolle Arbeit, die ggf. von Behandlungs-, Beratungs- und Betreuungsleistungen unterstützt wird. Diejenigen, die keine Unterstützung von Angehörigen erfahren oder deren Erkrankung so ausgeprägt ist, dass sie ein spezifisches Setting erfordert, erhalten die erforderlichen Leistungen im Kontext der bezirklichen Pflichtversorgungssysteme.

Die klinische Behandlung erwachsener psychisch kranker und suchtkranker Menschen erfolgt in 18 Fach- und Allgemeinkrankenhäusern in den dortigen Fachabteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie mit insgesamt 2.015 ordnungsbehördlich genehmigten Betten (lt. Krankenhausplan, Stand: 31.12.2006). Die Krankenhäuser behandeln darüber hinaus auch in Tageskliniken. Hier stehen insgesamt 525 Plätze zur Verfügung. Nach einer Datenerhebung der Arbeitsgruppe Psychiatrie der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden in Deutschland in ausgewählten Großstädten ist die Bettendichte in Berlin unterdurchschnittlich.

Außerdem wird an jedem Krankenhaus eine Institutsambulanz vorgehalten, die insbesondere Menschen mit schweren bzw. langwierigen Erkrankungen behandelt, die nicht regelmäßig zu einem niedergelassenen Arzt gehen würden.

Im ambulanten Bereich übernehmen 418 Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, 607 ärztliche Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie 1.414 psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die ambulante Behandlung (Stand 31.12.05). Ergänzt werden diese Behandlungsleistungen durch Leistungen der Soziotherapie und der psychiatrischen Hauskrankenpflege, die auch zu den Leistungsverpflichtungen der Krankenkassen nach dem SGB V zählen.

Betreuung und Unterstützung Beratung, Begutachtung, Hilfevermittlung und Krisenintervention sind die Kernaufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste, die von allen Bezirken vorgehalten werden und sich auf 22

Standorte verteilen.

Außerhalb der Öffnungszeiten der Sozialpsychiatrischen Dienste übernimmt der Berliner Krisendienst die Unterstützung von Menschen in psychischen Krisensituationen, so dass eine Krisenversorgung durchgehend sichergestellt ist.

Werden über die Möglichkeiten klinischer und ambulanter Behandlung hinaus weitere Unterstützungsleistungen benötigt, können Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53/54 SGB XII beantragt werden.

Diese bestehen in erster Linie aus verschiedenen Leistungen des betreuten Wohnens (z. B. therapeutisch betreute Wohngemeinschaften, therapeutisch betreutes Einzelwohnen, Heime) und der Tagesgestaltung/-strukturierung (Beschäftigungstagesstätte). Seit dem 1. Januar 2004 wird das Steuerungsmodell der Budgetierung (bezirksübergreifende Trägerbudgets) in diesem Bereich modellhaft umgesetzt. Dabei führen in einem vereinbarten Rahmen auch Fallzahlsteigerungen nicht zu einer Erhöhung der Kosten für den Sozialhilfeträger. Im Jahr 2006 wurden in bzw. von diesen Einrichtungen über 5.200 Menschen betreut. Der Zugang zu den Einrichtungen der Eingliederungshilfe erfolgt über die bezirklichen Steuerungsgremien, in denen alle an der bezirklichen Versorgung Beteiligten (Krankenhaus, Sozialpsychiatrischer Dienst, Psychiatriekoordinator, Leistungserbringer und Fallmanagement) gemeinsam und sofern von ihr gewünscht auch mit der psychisch kranken Person über die adäquate Hilfe beraten.

Außerdem stehen im Rahmen der psychiatrischen Versorgung insbesondere für Prävention und Nachsorge die niedrigschwelligen Angebote „Kontakt- und Beratungsstellen", „Beratungsstellen für alkohol- und medikamentenabhängige Menschen", „Zuverdienstprojekte" und „Berliner Krisendienst" zur Verfügung. Diese werden von den Bezirken aus Zuwendungen finanziert (sogenannte „PEP-Produkte"). Beide Leistungsformen, die der Eingliederungshilfe und die niedrigschwelligen Angebote, werden fast ausschließlich von gemeinnützigen freien Trägern erbracht, die Mitglieder in der Liga der Wohlfahrtsverbände sind.

Alle Angebote sind Bestandteile der regionalisierten Pflichtversorgung. Sie stehen ­ unabhängig von ihrer Finanzierungsart - sowohl Frauen als auch Männern je nach individuellem Unterstützungsbedarf zur Verfügung, werden von Frauen und Männern jedoch unterschiedlich genutzt. Nach einer Erhebung der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz für das Jahr 2004 werden die oben genannten Leistungen der Eingliederungshilfe zu zwei Dritteln von Männern und zu einem Drittel von Frauen genutzt.

Für die Kontakt- und Beratungsstellen ergibt sich nach den hier vorliegenden Daten ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern über alle Einrichtungen in Berlin. Die Angebote der Beratungsstellen für alkohol- und medikamentenabhängige Menschen werden zu etwa 30% von Frauen und zu etwa 70% von Männern genutzt. Dieses Verhältnis entspricht auch dem Geschlechterverhältnis bezüglich des missbräuchlichen Alkoholkonsums.

Für die verschiedenen zuwendungsfinanzierten Versorgungsbausteine wurden Standards für die Angebotsstruktur und die Arbeit in den verschiedenen Einrichtungen entwickelt (s. Anlagen 2 bis 4). Da bekannt ist, dass es sowohl bei Sucht- als auch bei einem Teil psychischer Erkrankungen quantitative Unterschiede bei der Verteilung auf die Geschlechter gibt, wurden die unterschiedlichen Realitäten, Sichtweisen und Bedürfnisse von Nutzerinnen und Nutzern berücksichtigt (z.B. Gender Mainstreaming, interkulturelle Aspekte, Erwachsene spezieller Altersgruppen). Damit gehört die Beachtung geschlechtsdifferenzierter Ansätze im Verständnis sowohl des Senats als auch der Bezirke und geförderten Einrichtungen zu den Grundstandards einer modernen und unterstützenden Betreuung psychisch kranker Frauen und Männer, die sich sowohl in den Konzepten als auch bei beim Fachcontrolling widerspiegeln muss.

3. Basis bezirklicher Zuwendungsfinanzierung

Mit der Neustrukturierung der psychiatrischen Versorgung in den 90er Jahren, deren Grundlage das Psychiatrieentwicklungsprogramm (PEP) bildete, wurde auch ein neues Grundgerüst für die Finanzierung psychiatrischer Angebote entwickelt. Inhaltlich war damit der Grundsatz verbunden, dass in allen Bezirken eine vergleichbare und in sich differenzierte Versorgungsstruktur im Sinne einer Pflichtversorgung aufgebaut wird, so dass jede Person mit einem spezifischen Unterstützungsbedarf ein auf sie zugeschnittenes Leistungsangebot in ihrem Wohnbezirk erhält, sofern sie dies möchte.

Die Berechnung dieser Mindestbeträge sowie der Ausweis der bezirklichen Einzelbeträge erfolgte ­ mit Ausnahme der Mittel für die Beratungsstellen für alkohol- und medikamentenabhängige Menschen - auf Basis der Bevölkerung und unter Berücksichtigung der Sozialstruktur des jeweiligen Bezirks.

Die Bezirke haben durch die Zuweisung des Haushalts als Globalsumme die Möglichkeit, ihre Ausgaben eigenständig zu verteilen. In diesem Zusammenhang wird anerkannt, dass die Bezirke ihrer Verantwortung für die psychiatrische Pflichtversorgung Rechnung getragen haben, indem sie gemäß Vorgabe des Senats mindestens die zugewiesenen Beträge regelmäßig für die genannten Angebote verausgabt haben. Seit 1999 sind diese Mindestzuweisungsbeträge stabil geblieben. Steigerungen in der Inanspruchnahme und Kostensteigerungen konnten durch die Bezirke und die Leistungserbringer bis dato aufgrund intensiver Kooperation und Steuerung weitgehend aufgefangen werden.

4a. Neuordnung der bezirklichen Zuwendungen

Seit 1999 haben sich in den Bezirken die Rahmenbedingungen gravierend verändert. Dazu zählen maßgeblich die Bezirksfusionen 2001 und Veränderungen sowohl der Bevölkerungszahlen als auch der Sozialstruktur.

Mit der Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung auch für Transferleistungen aus dem PEP waren somit die o.g. Versorgungsbausteine auf die Budgetierung durch Produkte umzustellen. Eine erstmalige Mengenzählung erfolgte im Jahr 2005, so dass für das Haushaltsjahr 2007 erstmalig eine Produktbudgetierung möglich war. Die unter 3. genannten Mindestbeträge wurden als Zielbudgets zugewiesen.

Die Anwendung einer ausschließlich auf Ist-Mengen beruhenden Berechnung von Produktbudgets hätte allerdings eine Umverteilung von Zuwendungsmitteln zur Folge gehabt, die zu einer Gefährdung bestehender regionaler Pflichtversorgungsangebote geführt hätte und daher aus fachlicher Sicht und unter Berücksichtigung struktureller Gesichtspunkte nicht vertretbar gewesen war. Eine solche Entwicklung hätte im Widerspruch zu den grundlegenden Festlegungen des Senats zur Ausgestaltung und Steuerung des psychiatrischen Versorgungssystems gestanden.

Vorlage „Finanzielle Auswirkungen des Psychiatrieentwicklungsprogramms ­ PEP, Drs. Nr. 13/3684

Für die Finanzierung des landesweiten Krisendienstes übertrugen alle Bezirke im Rahmen einer Verwaltungsvereinbarung den jeweiligen Bezirksanteil zur Finanzierung und Steuerung auf den ehemaligen Bezirk Charlottenburg.