Die Einführung von Mehrmandatswahlkreisen mit bis zu sieben Mandaten steht daher nicht in Einklang mit der in Art

3. Zulässigkeit des Volksbegehrens

a) Unvereinbarkeit der vorgeschlagenen Mehrmandatswahlkreise mit Art. 39 Abs. 2 der Verfassung von Berlin

Nach Art. 39 Abs. 2 VvB ist die Zuteilung von (Listen-)Mandaten an die Parteien davon abhängig, dass sie entweder 5 % der Stimmen in Berlin errungen oder einen Sitz in einem Wahlkreis gewonnen haben. Die Überwindung der Sperrklausel für die Sitzverteilung an die Parteien durch ein Mandat in einem Wahlkreis (Grundmandatsklausel) wurde im Jahr 1958 in die Verfassung eingeführt (Gesetz vom 28. März 1958 ­ GVBl. S. 308). Das gleichzeitig geänderte Landeswahlgesetz legte fest, dass im Wahlkreis der Bewerber mit den meisten Stimmen (Mehrheitswahl) gewählt wird (§ 13 ­ GVBl. S. 306). Deshalb schreibt die Verfassung inhaltlich die Mehrheitswahl einer Person im Wahlkreis vor (so im Ergebnis wohl Pfennig-Neumann, VvB, Art. 39 RNr. 10; Driehaus, VvB, Art. 39 RNr. 3).

Die Wahl in den Mehrmandatswahlkreisen ist nach der Begründung des Gesetzentwurfs des Volksbegehrens eine proportionale Wahl von drei bis sieben Kandidierenden (vgl. Begründung B zu Nummer 10).

Selbst wenn man die Mehrheitswahl im Wahlkreis nach der Grundmandatsklausel der Verfassung von Berlin nicht als zwingend ansieht, weil der Wortlaut des Art. 39 Abs. 2 dies nicht enthält, kann der die Teilnahme an der Stimmverteilung rechtfertigende Mehrheitserfolg in einem Einerwahlkreis mit dem Gewinn eines Mandats im Mehrmandatswahlkreis rechtlich nicht gleichgesetzt werden. Das tatsächliche Gewicht des Gewinns eines Einerwahlkreises, der möglicherweise bei einer gleichstarken Konkurrenz bereits mit 20 % bis 25 % der Stimmen erreichbar ist, bezieht sich nach dem Grundanliegen der Mehrheitswahl auf die Wahlberechtigten des gesamten Wahlkreises. Dies ist bei einem Mehrmandatswahlkreis von vornherein nicht der Fall. Bei einem Wahlkreis mit sieben Mandaten wäre ein Mandatsgewinn nach der Proportionalität bereits mit weniger als 15 % erreichbar. Die Rechtfertigung für die Grundmandatsklausel ist aber gerade die Betonung eines regionalen Erfolges einer Partei in einem Wahlkreis. Ein proportionaler Gewinn in einem größeren Wahlkreis belegt noch nicht den regionalen Schwerpunkt des Wahlerfolges, der die Teilhabe an der Mandatsverteilung verfassungsrechtlich erlaubt.

Die Einführung von Mehrmandatswahlkreisen mit bis zu sieben Mandaten steht daher nicht in Einklang mit der in Art. 39 Abs. 2 der Verfassung von Berlin zugelassenen Grundmandatsklausel.

b) Unvereinbarkeit der Ersatzstimme mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit nach Art. 39 Abs. 1 der Verfassung von Berlin und mit der 5%-Hürde nach Art. 39 Abs. 2 der Verfassung von Berlin

Der in Art. 39 Abs. 1 der Verfassung von Berlin aufgeführte Grundsatz der unmittelbaren (direkten) Wahl erfordert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Wahlberechtigte vor der Wahl erkennen kann, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Bewerber und Bewerberinnen auswirken kann (vgl. BVerfG, 2 BvC 1/07 vom 3.7.2008, Absatz-Nr.- http://www.bverfg.de /entscheidungen/ cs20080703_2bvc 000107.html; BVerfGE 47, 253

<279 f.>; 95, 335 <350>).

Die im Gesetzentwurf des Volksbegehrens angestrebte Regelung einer Ersatzstimme für die Partei, die an der 5%-Hürde scheitert, ist eine bedingte Wahlentscheidung. Derartige bedingte Entscheidungen laufen dem Wesen des Wahlrechts zuwider, eine eindeutige, klare und unmittelbar wirkende Wahlentscheidung zu treffen. Die Eventualität der Ersatzstimme durchbricht die Unmittelbarkeit der endgültigen Entscheidung. Die ummittelbare Wirkung der Wahlentscheidung kommt einer anderen Partei zugute, auf die die zunächst erfolglose Stimme umgeleitet wird. Die erste Entscheidung würde gleichsam nachträglich für unwirksam erklärt werden.

c) Verstoß der Regelung über die staatliche Teilfinanzierung in § 32 des Gesetzentwurfs des Volksbegehrens gegen das Parteiengesetz des Bundes

Die staatlichen Mittel nach den §§ 18 und 20 des Parteiengesetzes für die bei Landtagswahlen erzielten gültigen Stimmen werden an den Landesverband der Partei von den Ländern ausgezahlt. § 32 des Landeswahlgesetzes legt für Berlin die Zuständigkeit des Präsidenten des Abgeordnetenhauses fest. Eine materielle Regelung ist damit nicht verbunden; sie wäre auch nicht zulässig, weil das Parteienrecht nach Art. 21 Abs. 3 GG nach allgemeiner Rechtsauffassung zur ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes gehört.

Die im Gesetzentwurf des Volksbegehrens in Artikel 1 Nr.20 formulierte Änderung des § 32

LWG, mit dem für die Berechnung der staatliche Teilfinanzierung der Parteien die neu eingeführte Ersatzstimme ohne Auswirkung bleiben soll, ist deshalb wegen Verstoßes gegen das Bundesrecht unwirksam. Das geltende Parteiengesetz enthält keine Regelung für eine „vorläufige" Stimmabgabe, die bei einem Scheitern der Partei an der Sperrklausel durch eine gültige Stimme (Ersatzstimme) für eine andere Partei ersetzt wird. Maßgebend sind nach dem Parteiengesetz für die staatliche Teilfinanzierung der Parteien allein die im endgültigen Wahlergebnis festgestellten Stimmen.

d) Verfassungsrechtliche Problematik der Veränderung der Parteilisten durch Präferenzen

Die sehr breit angelegten Möglichkeiten der Veränderung der Listen der Parteien durch die Vergabe von Präferenzen lassen Zweifel an der Unmittelbarkeit der Wahlentscheidung im Sinne einer Vorhersehbarkeit und an der im Wahlrecht in besonderer Weise erforderlichen einfachen, klaren und transparenten Normgebung aufkommen. Diese Normenklarheit gerade für das Wahlrecht hat das frühere Wahlprüfungsgericht bei dem Abgeordnetenhaus von Berlin in seiner Entscheidung von 1975 gefordert (OVGE Bln. 13, 244 <266>). Das Hamburgische Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 27. April 2007 (HVerfG 04/06, Umdruck S. 38) im Wahlzusammenhang von einem Gebot der Normenklarheit in „besonders hohem Maße" gesprochen. Auch das Bundesverfassungsgericht fordert in seiner jüngsten Entscheidung, dass der Wahlberechtigte vor der Wahl erkennen kann, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Bewerber und Bewerberinnen auswirken kann (vgl. BVerfG, 2 BvC 1/07 vom 3.7.2008, Absatz-Nr. 126 http://www.bverfg.de/entscheidungen/ cs20080703_2bvc 000107.html; BVerfGE 47, 253 <279 f.>; 95, 335 <350>).

Die Regelungen des Gesetzentwurfs über die Veränderbarkeit der Parteilisten sind nicht einfach zu lesen und nicht ohne Mühe zu verstehen, weil die Regelungen sehr kompliziert angelegt sind: Die Wahlberechtigten haben nicht nur für die Parteien fünf Stimmen (Parteistimmen), die sie auf eine oder mehrere Listen verteilen können. Zusätzlich soll die Möglichkeit bestehen, die Reihenfolge der Kandidierenden auf der Parteiliste durch die Vergabe von Präferenzen zu verändern. Dabei dürfen die Wahlberechtigten nicht nur eine oder wenige Präferenzen vergeben, sondern so viele, wie die Parteiliste kandidierende Personen enthält, der sie ihre Parteistimme gegeben haben. Das soll auch für Parteilisten gelten, die von den fünf Stimmen nur eine oder bis zu vier Parteistimmen erhalten haben. Ob den Wahlberechtigten, die beispielsweise einer Partei bewusst nur eine Parteistimme von fünf denkbaren Parteistimmen gegeben haben, klar wird, dass die Präferenz für einen Kandidierenden sich nur im Umfang von einem Fünftel der Stimmwirkung auswirken kann, dürfte nicht selbstverständlich sein.

Angesichts der hier kurz beschriebenen Fülle von Entscheidungsmöglichkeiten könnten die Wahlberechtigten im Zweifel sein, welche Entscheidung sie mit welcher Auswirkung treffen sollen. Dies ist nicht nur für die Wähler kompliziert, sondern auch für die Ermittlung des Wahlergebnisses. Während für den Erfolg der Parteilisten im Abgeordnetenhaus das proportionale Berechnungsverfahren, nämlich das Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë/ Schepers, anzuwenden ist, wird für die Ermittlung der Mandate nach den erteilten Präferenzen das „Prinzip der Übertragbaren Einzelstimmgebung" angeordnet, das letztlich ebenfalls ein proportionales Zu5 teilverfahren darstellt. Dieses bisher in Deutschland nicht praktizierte Verfahren und die Auswirkungen ließen sich nur mit einem überaus hohen Erläuterungsaufwand gegenüber den Wahlbeteiligten darstellen.

Insoweit unterliegt die im Gesetzentwurf konkret vorgesehene Veränderbarkeit der Listenreihenfolge verfassungsrechtlichen Bedenken.

4. Folgerungen aus der teilweisen Unzulässigkeit des Volksbegehrens

Die Einführung der obligatorischen Landesliste für die Verhältniswahl des Abgeordnetenhauses und die Vergabe von fünf Parteistimmen sind verfassungsrechtlich zulässig. Das gilt auch für die Umstellung der Sitzberechnung auf Sainte-Laguë/Schepers sowie die entsprechenden Änderungen bei den Wahlen der Bezirksverordnetenversammlungen.

Eine teilweise Unzulässigkeit erfasst nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen das gesamte Volksbegehren, wenn alle Änderungen des Landeswahlgesetzes nach dem Vorschlag oder der Begründung inhaltlich untrennbar verwoben sind. Aus der Sicht des Senats ist dies bei dem vorliegenden Entwurf ­ abgesehen von der redaktionellen Gestaltung ­ nicht der Fall. Die für zulässig gehaltenen Änderungen haben auch ohne die Mehrmandatswahlkreise und die Ersatzstimme im Verhältnis zu dem geltenden Wahlrecht eine eigenständige Bedeutung.

Ob dies den Intentionen der Trägerin entspricht, entscheidet die Trägerin, spätestens wenn sie den Antrag auf Durchführung des Volksbegehrens für die zulässigen Teile des Gesetzentwurfs nach § 18 Abs. 1 AbstG vorbereitet. Dieser Antrag kann erst gestellt werden, nachdem das Abgeordnetenhaus das Begehren nicht innerhalb von vier Monaten angenommen hat. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Trägerin die erforderlichen Änderungen des Gesetzestextes und der Begründung vornehmen.

5. Zulässigkeitsentscheidung des Senats

Der Senat stellt fest, dass das Volksbegehren teilweise unzulässig ist, und zwar für die Wahl des Abgeordnetenhauses hinsichtlich der vorgeschlagenen Mehrmandatswahlkreise, der Ersatzstimme anstelle der Stimme für eine an der 5%-Hürde gescheiterten Partei und der Ersatzstimme für die Wahlen der Bezirksverordnetenversammlungen sowie die Regelung über die staatliche Teilfinanzierung im Landeswahlgesetz.

6. Stellungnahme des Senats zu den zulässigen Teilen des Gesetzentwurfs

a) Vergabe von mehreren Parteistimmen und von Präferenzen

Der Senat hält es im Interesse einer einfachen, klaren und transparenten Regelung im Wahlrecht nicht für ratsam, mehrere Parteistimmen einzuführen, die auf verschiedene Partei verteilt werden können.

Entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung an ein Wahlrecht, das Transparenz, hinreichende Nachvollziehbarkeit auch für den durchschnittlichen Betrachter und mithin die gebotene Rechtsklarheit verwirklicht (vgl. oben 3. d), ist es nicht angemessen, die Veränderung der Kandidatenreihenfolge durch die Vergabe von Präferenzen in einem derart großen Umfang zu ermöglichen, dass die Regelungen insgesamt unübersichtlich und kompliziert werden.

Bei den großstädtischen Verhältnissen in Berlin ist eine Regelung, wie sie für kleinere Kommunen praktiziert wird, nicht überzeugend umsetzbar. Die Möglichkeiten, sämtliche Kandidierenden z. B. in einem Bezirk öffentlich hinreichend bekannt zu machen, sind begrenzt.