Vollzeitpflege

Wir haben in Bremen auf einen Stichtag gerechnet insgesamt 1210 Maßnahmen, davon 503 Kinder in Heimen, 430 in der Vollzeitpflege. Das ergibt dann 943, der Rest verteilt sich auf andere Maßnahmen. In Bremerhaven sind es 508 Maßnahmen.

Das ist ja schon auffällig, denn Bremerhaven stellt ein Fünftel der Bevölkerungszahl Bremens, und da muss man ja schauen: Wie geht das eigentlich auf?

In Bremerhaven sind 63 Kinder in Heimen untergebracht und 252 in der Vollzeitpflege. Es gibt in der Praxis offenbar ganz erhebliche Unterschiede.

Da fragen wir uns: Wie kommt das zustande? Das ist hier nicht erläutert. Ich glaube, dass wir als Fachpolitiker die Aufgabe haben, das noch näher auszuleuchten und zu schauen: Was sind die fachlichen Gesichtspunkte, nach denen in diesen unseren beiden Städten so unterschiedlich verfahren wird? Wir können ja vielleicht auch als Bremer von den Bremerhavenern lernen.

(Beifall bei der SPD)

Das wird die Bremerhavener freuen. Vielleicht ist es aber auch so, dass die Bremerhavener von uns noch etwas lernen können.

(Beifall bei der CDU) Man muss voneinander abgucken können. Ich finde, da muss man, jedenfalls schon innerhalb des Bundeslandes, doch bereit sein, sich auch das Bessere anzuschauen und es sich dann eventuell zu eigen zu machen.

Wir fragen uns allerdings auch ­ da möchte ich eine ganz vorsichtige Kritik an dem üben, was in der Vergangenheit geschehen ist ­, warum diese Statistiken nicht zur Verfügung stehen! Wer hat eigentlich entschieden, oder wer ist nach dem Gesetz dafür zuständig zu entscheiden, wie die Statistiken geführt werden? Wie kommt das zustande ­ das ist ja hier nicht erläutert ­, dass die Daten unterschiedlich erfasst werden? Das ist auf den ersten Blick schon ziemlich unsinnig. Das muss also geändert werden, damit überhaupt eine Möglichkeit geschaffen wird, die Praxis in den beiden Gemeinden miteinander zu vergleichen. Da gibt es noch Handlungsbedarf, jedenfalls auf diesem Feld.

Wir sehen dann, das entnehmen wir der Antwort des Senats, dass noch Plätze zur Verfügung stehen für Unterbringungsmaßnahmen: in Bremen-Stadt 60 und in Bremerhaven 15. Das ist gut. Das heißt also, es gibt noch Luft. Wenn Maßnahmen notwendig sind, darf das nicht daran scheitern, dass keine Plätze vorhanden sind.

Aus unserer Sicht ist wichtig und das müssen wir betonen, dass die Erfahrungen in Bremen und in Bremerhaven mit der Unterbringung in den Pflegefamilien positiv sind. Das wird hier nicht weiter erläutert, aber das ist ohne Weiteres nachvollziehbar. Wir haben ja auch als Sozialdeputierte vielfältige Kontakte in diese Bereiche hinein. Das ist richtig gut. Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass Pflegeeltern freiwillig ein hohes soziales Engagement haben.

Das können wir nur unterstützen.

Wir müssen als Politik dafür sorgen, dass Pflegeeltern bei dieser schwierigen Arbeit vernünftig, seriös und dauerhaft begleitet werden, überprüft, aber auch begleitet werden. Das ist mindestens genauso wichtig. In diesem Zusammenhang kann ich hervorheben: Wir haben ganz viele positive Rückmeldungen über eine Einrichtung, die in Bremen geschaffen worden ist: Pflegekinder in Bremen, dort wird eine sehr gute Arbeit gemacht.

(Beifall bei der SPD) Also, wir sehen, es sind Reserven vorhanden, und deshalb müssen keine Maßnahmen unterbleiben, die notwendig sind. Es ist noch keine einzige Maßnahme deshalb abgelehnt worden, weil keine Plätze vorhanden sind. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis.

(Glocke) War das eine Glocke?

Präsident Weber: Ja! Ganz dezent, Herr Abgeordneter!

Abg. Grotheer (SPD): Ganz dezent war das die Glocke. Also, wir haben noch Handlungsbedarf, was die statistische Erfassung angeht, was das Abarbeiten der Praxis angeht, und wir sollten uns darüber einig sein, dass wir gut daran tun, alles zu unternehmen, um weitere Familien zu bewegen, Pflegekinder aufzunehmen, weil es mit Sicherheit besser ist, wenn Kinder aus gefährdeten Familien eine intakte Familie vorfinden, eine Pflegefamilie, in der sie behütet aufwachsen können und für die Zukunft gerüstet sind. ­ Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD) Präsident Weber: Als nächster Redner erhält das Wort der Abgeordnete Crueger.

Abg. Crueger (Bündnis 90/Die Grünen): Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Liebe Kollegen von CDU und SPD, das, was Sie uns hier vorgelegt haben, ist zwar eine Anfrage, aber wenn Sie mich fragen, ist das eine Kleine und keine Große Anfrage. Große Anfragen zeichnen sich dadurch aus, dass aus ihnen so etwas wie eine politische Richtungsbestimmung hervorgeht. Möchten Sie die mir bitte erklären!

Sowohl in Ihren Beiträgen als auch in Ihrer Anfrage haben Sie sehr schön einige der Fragen hier referiert, wenn ich die jetzt noch einmal zitieren darf:

Wie viele Familien mit Kindern sind derzeit in Maßnahmen, wie viele dieser Kinder leben bei eigenen Eltern, wie viele Pflegefamilien haben derzeit mehrere Kinder zur Betreuung und so weiter und so fort?

Das sind Fragen nach ganz einfachen statistischen Erhebungen, da ist nichts an politischer Richtung dabei!

Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, lassen Sie uns doch, wenn Sie uns schon hier mit Großen Anfragen regelmäßig zuschwallen, statt Anträge zu schreiben, wenigstens dabei bleiben, dass wir dann doch richtige Große Anfragen hier diskutieren und nicht so etwas!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen) Mir ist auch nicht klar, ich möchte auch nicht zu viel Schärfe in die Debatte bringen, wie solche Zahlenkolonnen, wie sie hier vom Senat richtigerweise aufgeführt wurden, es wurde ja auch danach gefragt, sollen herauszufinden, wie es denn in Wirklichkeit ist. Es ist mir nicht klar, wie Sie aus diesen statistischen Erhebungen erkennen wollen, ob es den Kindern gut geht oder nicht. Das kann ich zumindest nicht daraus erkennen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Da finde ich schon wesentlich zukunftsweisender und richtiger den Ansatz, dass wir als Sozialdeputation der GIS, Gesellschaft für Innovative Sozialforschung, einen Auftrag gegeben haben, einmal Fallverläufe zu untersuchen und tatsächlich mit Fach- und Sachverstand in die Fallakten hineinzuschauen, um festzustellen, sind die Entscheidungen richtig gefallen, ist das, was mit dem Jugendlichen, mit dem Kind passiert, das, wie es hätte sein sollen, oder gab es da womöglich Fehler, gab es da Sollbruchstellen, ist da etwas nicht so gelaufen, wie es hätte sein sollen. Das, finde ich, ist der richtige Ansatz.

Das haben wir längst auf den Weg gebracht. Wir warten jetzt die Ergebnisse dieser Studie ab, damit sind auch hochrangige Wissenschaftler beauftragt. liefern wird, mit dem wir gut arbeiten können. Dazu brauchen wir so etwas wie hier heute nicht.

Ich möchte noch etwas sagen, um auch inhaltlich zu werden, zum Thema Pflegefamilien! Ich glaube, das Entscheidende ist: Wir müssen abwarten, was der Untersuchungsausschuss uns als Fachabgeordneten, die wir dort alle nicht vertreten waren, an Denksteinen mit auf den Weg gibt. Aber dann sind wir auch schon längst in einer inhaltlichen Diskussion selbst angelangt.

Wir wissen, dass sich Pflegefamilien in einem ganz sensiblen Spannungsfeld bewegen. Dieses Spannungsfeld ist einerseits ambulant vor stationär, andererseits die günstigere Variante zu finden. Ich glaube, dass Pflegefamilien günstiger sind als eine Heimunterbringung, das ist ganz klar, und dass es in vielen Fällen für Jugendliche auch fachlich besser ist, wenn sie in einer Pflegefamilie, also ambulant und fallen nicht immer notwendigerweise zusammen.

Das heißt, einfach per se zu entscheiden, wir bringen, weil es günstiger ist, Kinder in Pflegefamilien unter statt in Heimen, ist verkehrt. So darf ambulant vor stationär nicht funktionieren. Es muss in jedem Einzelfall fachlich entschieden werden, ist es in diesem Einzelfall besser für den Jugendlichen, in eine Pflegefamilie zu kommen, oder besser für den Jugendlichen, stationär untergebracht zu werden. Diese fachliche Abwägung muss das Entscheidende sein.

Dass wir wissen, dass das eine weniger kostet als das andere, darf uns dabei nicht berühren. Das ist das, was wir schaffen müssen, um im Jugendamt wieder vernünftige Entscheidungen herbeizuführen. In jedem Einzelfall muss die fachliche Entscheidung getroffen werden. Genau in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Pflegefamilien.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich glaube, dass wir auch erkennen müssen, dass das für die Eltern große Herausforderungen sind und es im Moment schon bei Schwierigkeiten gibt, genügend qualifizierte Eltern, geeignete Eltern zu finden für die Programme, für die Module, die anbietet, und dass wir erkennen müssen, dass auch Pflegefamilien irgendwann an ihre Grenzen stoßen.

Das System Pflegefamilien kann nicht beliebig weit ausgedehnt werden auf immer schwierigere Fälle.

Wenn es dann die Eltern nicht gibt, die das übernehmen können, dann zeigt uns das einfach, dass dort das System Pflegefamilien an seine Grenzen stößt, dass dort auch eine stationäre Unterbringung genauso richtig sein kann.

Ambulant vor stationär, das noch einmal zum Abschluss, um das Ganze deutlich zu machen, ist kein Dogma, sondern ambulant vor stationär muss im Einzelfall entschieden werden von Menschen, die sich damit auskennen und die das fachlich entscheiden.

­ Danke schön!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen) Präsident Weber: Als nächste Rednerin hat das Wort Frau Senatorin Rosenkötter.

Senatorin Rosenkötter: Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Frage, mit welchen Hilfeleistungen und Leistungen die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe auf Probleme der Kindeswohlgefährdung reagiert, ist nicht nur aus aktuellem Anlass ein zentrales Thema. Ich will vorwegschicken, dass wir uns bei der Beantwortung gemäß der Fragestellung vor allem auf die engeren Maßnahmen der Kindeswohlsicherung in gravierenden Fällen bezogen haben. Deshalb sind hier von den Jugendämtern vor allem Maßnahmen der Inobhutnahme, der sozialpädagogischen Familienhilfe und der Fremdplatzierung in Heimen oder Pflegefamilien benannt worden.

Ich möchte aber betonen, dass auch alle weiteren Hilfen zur Erziehung, also beispielsweise die familienbezogenen Präventionsprogramme der Kinder-, Jugend- und Gesundheitshilfe, natürlich Kindeswohlsicherung im engeren und im weiteren Sinne bedeutenundihmdienen.Kindeswohlgefährdungkannsehr unterschiedliche Erscheinungsformen und Gefährdungsgrade annehmen. Dementsprechend kann es keine standardisierte Antwort der Kinder- und Jugendhilfe zur richtigen Hilfestellung geben. Es besteht also die Verpflichtung, in jedem Einzelfall die erforderliche und geeignete Hilfe zu ermitteln und auf der Grundlage eines Hilfeplans umzusetzen. Das ist die Aufgabe der Sachbearbeiter vor Ort in den Sozialzentren.

Aus der Antwort können Sie entnehmen, dass die passende Hilfeart unter anderem auch sehr vom Alter des Kindes abhängt. Bei sehr jungen Kindern steht aus fachlichen Gründen an erster Stelle immer die Frage, ob es eine Pflegefamilie gibt, die zukünftig und auch dauerhaft als Lebensort zur Verfügung stehen kann. Die Abbruchquoten sind in diesen Fällen durch gute Vorbereitung und Begleitung in der Regel sehr niedrig. Das bedeutet einfach auch für die Kinder ein Verbleib über eine längere Zeit in diesen Familien und eine Art von Sicherheit und Geborgenheit auch in dieser neuen Pflegefamilie.

Wir haben inzwischen aber auch die Möglichkeit, älteren Jugendlichen passende Hilfen im Rahmen von Pflegefamilienzugewähren.Hierhabenwirmitgutem Erfolg zum Beispiel spezifische Jugendpflegestellen eingerichtet. Sie bieten einen tragfähigen familiären Bezugsrahmen, bis der junge Mensch dann allein und selbstständig leben und wohnen kann. Heimunterbringungen werden im Allgemeinen als Maßnahme häufig erst für ältere Kinder und Jugendliche gewählt.

Sie haben damit schon automatisch auch kürzere Laufzeiten. Oft sind davor schon andere Maßnahmen durchgeführt worden, die vorübergehend sinnvoll und tragfähig waren, auf Dauer aber nicht ausreichen oder insgesamt nicht den gewünschten Erfolg erzielt haben.

Als Fazit lässt sich dazu feststellen: Ambulanten familienstabilisierenden Hilfen wird fachlich und rechtlich grundsätzlich ein Vorrang eingeräumt. Es ist aber auch fachlich und fiskalisch falsch, Heimerziehung als sogenanntes letztes Mittel einzusetzen. So kann es im Einzelfall sein, dass bestimmte differenzierte Fachkonzepte der Heimerziehung aufgrund einer besonderen Fallkonstellation auch unmittelbar die geeignetste Hilfe sind. Dann ist auch genau eben dieser Weg zu wählen. Die Abwägung, welche Form der Hilfe die geeignetste ist, ist also in jedem Einzelfall zu treffen. Dies ist eine sehr komplexe und, wie ich gesagt habe, vor Ort professionell anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe, die das Jugendamt, die die Sozialzentren vor Ort im Zusammenwirken mit allen Beteiligten zu bewältigen haben.

Ich will ganz kurz auf Folgendes eingehen, weil hier auch die Zahlen angesprochen worden sind, die in der Tat für Bremerhaven sehr viel genauer benannt worden sind als für Bremen: Die Stadtgemeinde Bremen nimmt im Übrigen an einem Großstadt-Jugendhilfevergleich teil. Hier zeigt sich, dass Bremen, obgleich es im Verhältnis zu Bremerhaven vergleichsweise wenig Fremdplatzierung und diese vergleichsweise selten in Pflegestellen hat, im Vergleich der Großstädte bei der Anzahl der Hilfen in Einrichtungen von betreuten Wohnformen und Vollzeitpflege mit einer Kennziffer von 15,29 den zweithöchsten Wert zeigt. Das Minimum liegt hier bei 11,24 und das Maximum bei 17,14. Lediglich in Essen liegt der Anteil der Fremdplatzierung deutlich darüber. Das Verhältnis der Heimunterbringungen zu den Vollzeitpflegen liegt im Vergleich der Großstädte im Mittelfeld platziert.

Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch im Stadtstaaten-Benchmarking zwischen Berlin, Hamburg und Bremen. Bremen liegt hier bei der Hilfedichte fremdplatzierter Maßnahmen im Mittelfeld, hat innerhalb dieser Hilfen den höchsten Anteil an Vollzeitpflege.

Ich will noch einmal ergänzen, und so ist es ja auch in der Deputation berichtet worden, dass wir sehr angewiesen sind auf die Einführung der Fallakte, die auch für Mitte Juli jetzt endgültig vorgesehen ist, und dass wir parallel dazu, das halte ich für notwendig und erforderlich, die entsprechenden Schulungen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchführen müssen, damit wir dann eine Grundlage haben und aktuell an entsprechende Daten und an die notwendigen Maßnahmen herankommen. ­ Herzlichen Dank!

(Beifall bei der SPD) Präsident Weber: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Damit ist die Aussprache geschlossen.

Die Bürgerschaft (Landtag) nimmt von der Antwort des Senats, Drucksache 16/1336, auf die Große Anfrage der Fraktionen der CDU und der SPD Kenntnis.