Sozialhilfe

Kostentransparenz und Kontrolle bei ambulant betreuten Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz

Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen:

Der Senat wird aufgefordert, die anstehenden Verhandlungen zu Tagespauschalen (Leistungskomplexe 19 und 38, gemäß § 89 SGB XI und § 75 Abs.3 SGB XII) für ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz mit den Landesverbänden der Pflegekassen bis zum 30. April 2011 auszusetzen und bis dahin nachfolgende Fragen zu klären und Sachverhalte zu regeln:

1. Welchen Status sollen gewerblich geführte sog. „anbietergesteuerte" Wohngemeinschaften bekommen,

· bei denen Pflegedienst und Vermieter/in nicht getrennt sind oder in enger wirtschaftlicher Beziehung zueinander stehen?

· bei denen sich mehrere Wohngemeinschaften an einem Standort befinden und von einem Träger untervermietet werden?

· bei denen das Zusammenleben und die Alltagsgestaltung von den Leistungserbringern bestimmt werden?

2. Wie wird die Vereinbarkeit dieser Wohngemeinschaften mit dem Wohnteilhabegesetz (WTG) kontrolliert?

3. Wie stellt der Träger der Sozialhilfe sicher, dass bei den Bewohnerinnen und Bewohnern mit Pflegestufe II und höher bei diagnostizierter Demenz, ausschließlich Tagespauschalen (Lk 19 für Pflege, Lk 38 für Betreuung) in Anspruch genommen werden und keine Abrechnung über Einzelleistungskomplexe erfolgt?

4. Wie geht der Sozialhilfeträger mit den Risikoausfällen (Mietrückstände, Mietausfälle und Leerstand) und Kosten für Umbaumaßnahmen und Anschaffungen (Küchenzeile, Waschmaschine etc.) in Wohngemeinschaften um? Welche Risiken trägt der Vermieter/die Vermieterin?

5. Durch welche Instrumente und Controllingmaßnahmen können die jeweiligen Verantwortlichkeiten sowie die Kostenstruktur der Pflegedienste und der Vermieterinnen und Vermieter transparent und nachvollziehbar dargestellt werden?

6. Wie kann ein Beschwerdemanagement installiert werden, auf das alle Beteiligten Zugriff haben?

Der Senat soll bis zum 30.04.2011 einen Vorschlag entwickeln, wie gewerblich geführte Wohngemeinschaften in das Wohnteilhabegesetz und in die Ausführungsvorschriften zum Wohnteilhabegesetz integriert und kontrolliert werden können.

Des weiteren muss der Senat dafür sorgen, dass die jeweiligen Geldgeber (Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Selbstzahler/innen) sämtliche Verträge zwischen den Beteiligten, insbesondere Miet- und Untermietverträge, vorgelegt bekommen.

Über die Umsetzung ist dem Abgeordnetenhaus jährlich zu berichten, erstmals zum 30. 06. 2010.

Begründung:

In Berlin leben derzeit schätzungsweise 40.000 Menschen mit Demenz. Bedingt durch den demografischen Wandel wird die Anzahl der Menschen, die demenziell erkranken, in den nächsten Jahren ansteigen. Damit einher geht eine steigende Zahl von ambulant betreuten Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz in Berlin.

Seit September 2005 gelten in Berlin für die Bewohnerinnen und Bewohner ambulant betreuter Demenz-Wohngemeinschaften Tagespauschalen. Sie ersetzen die Abrechnung nach den Modulen/Leistungskomplexen Nr. 1 bis 16, bzw. 31 bis 35 und 37. Die Einführung der Tagespauschalen war eine gute Entscheidung und verhindert aufwändige Einzelabrechnungen und Prüfungen. Sie muss jedoch mit adäquaten Kontrollinstrumenten flankiert werden.

In Berlin wird derzeit eine Pauschale von rund 95 Euro pro Fall und Tag für Pflege und Betreuung gezahlt. Bei durchschnittlich sechs Bewohnerinnen und Bewohnern sind das knapp 18.000 Euro garantierte Einnahmen für den Pflegedienst im Monat. Das Anbieten von Demenz-Wohngemeinschaften entwickelt sich zu einem lukrativen Geschäft - auch für die ambulanten Dienste.

Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass das Modell der geteilten Verantwortung, wonach die Bewohnerinnen und Bewohner bzw. deren Angehörige und/oder gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer als Initiatoren bzw. Beauftragende gegenüber dem Pflegedienst agieren, für Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz kaum noch gelebt wird, sondern fast flächendeckend von „anbietergesteuerten" Wohngemeinschaften abgelöst worden ist. In diesen Wohngemeinschaften werden i.d.R. die grundsätzlichen Entscheidungen über das Zusammenleben von den Pflegediensten und nicht von den Angehörigen bzw. gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern gefällt.

Problematisch ist, dass diese „anbietergesteuerten" Wohngemeinschaften im WTG nicht erfasst sind. Es bedarf demnach umgehend einer Klärung, welchen Status diese Wohngemeinschaften haben, wenn nicht ca. 90 Prozent der Wohngemeinschaften zu Kleinstheimen erklärt werden sollen. Denkbar wäre, ein Anbietermodell für Wohngemeinschaften im WTG zusätzlich einzuführen, wie dies mit den eingeschränkt selbstverantwortenden Wohnformen im Brandenburgischen Pflege- und Betreuungswohngesetz der Fall ist.

Es häufen sich Hinweise, dass es im Bereich von Wohngemeinschaften für Demenzkranke problematische Entwicklungen gibt.

Es gibt immer mehr Wohnungen, in denen demenziell erkrankte Menschen betreut werden, die dafür nicht geeignet sind bzw. gravierende Mängel aufweisen. Sei es, dass die Ausstattung nicht den qualitativen Anforderungen einer Demenz-WG entspricht, die Miete unangemessen hoch ist, oder die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner in der Wohngemeinschaft unverträglich hoch ist.

Besorgniserregend sind auch Berichte über Personalausstattungen, die weder quantitativ noch qualitativ die Gewähr für eine angemessene Versorgung und Betreuung der demenzkranken WGBewohnerinnen und -Bewohner bieten.

Eines der Hauptprobleme stellt jedoch die Intransparenz hinsichtlich der Kostenstruktur in den Wohngemeinschaften dar. Hier bedarf es einer deutlichen Klarstellung, dass finanzielle Mittel für die Pflege und Betreuung keinesfalls zur Deckung von Leerstand, Mietausfällen und ähnlichem herangezogen werden dürfen. Diese Risiken auf den Pflegedienst abzuwälzen kann dazu führen, dass dies zur Lasten der Qualität der Pflege und Betreuung geht.

Hier braucht es klare Vereinbarungen z. B. dahingehend, dass bauliche Investitionen Aufgabe der Vermieter bzw. Vermieterinnen sind, soweit sie nicht den Aufgabenbereich der Pflegekassen umfassen. Hilfsmittel wie Pflegebetten etc. sind von den Pflegekassen zu stellen. Anschaffungen für die Erstausstattung der Wohngemeinschaft sowie für den laufenden Betrieb sind Aufgabe der Mieterinnen und Mieter. Mietausfallrisiken müssen Bestandteil der Miete werden. Dieses Risiko darf nicht gesondert auf die Miete aufgeschlagen werden, sondern muss Bestandteil der Miete werden.

Per Gesetz ist die Trennung von Vermieter bzw. Vermieterin und Pflegedienst festgeschrieben worden, aber es fehlt an einem Konzept, wie dies kontrolliert werden kann und wie mit verschiedensten Konstruktionen umgegangen wird, die bereits vielerorts zu finden sind (z. B. bei Verwandtschaften unter den jeweiligen Akteuren oder wenn Pflegeanbieter Mitglied bei den Vermietervereinen sind). All dies muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass es den betreuten Menschen in diesen Wohngemeinschaften schlecht geht, vor allem dann nicht, wenn aufgeklärte und engagierte Angehörige und /oder Betreuerinnen und Betreuer in die Gesamtorganisation mit einbezogen sind.

Wenn dies aber nicht der Fall ist, dann laufen demenziell erkrankte Menschen in Wohngemeinschaften Gefahr, schlecht versorgt und betreut zu werden. Fälle von Problementwicklungen und von ungenügender Pflege und Betreuung in ambulanten Wohngemeinschaften sind zahlreich und auch öffentlich dargestellt worden.

Gerade in einem Bereich, in dem Bewohnerinnen und Bewohner krankheitsbedingt nahezu keine Möglichkeit haben, auf Missstände aufmerksam zu machen, muss es ein funktionierendes System der Prüfung und Kontrolle geben ­ zum Schutz der Betroffenen.

Die zumeist positiven Aspekte der ambulant betreuten Wohnform für Menschen mit Demenz dürfen den Senat nicht aus der Verant wortung entlassen, für eine angemessene Pflegequalität, die Einhaltung von Mindeststandards und den sachgerechten Einsatz der finanziellen Mittel zu sorgen.

Berlin, den 07. Dezember 2010