Grundschule

3.1.3 Umsteuerung Ziel der Umsteuerung ist die Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen in der inklusiven Schule. Veränderungen in der Diagnostik (siehe 3.6) und bei der Ressourcenverteilung (siehe 4) sind wichtige Bestandteile dieser Umsteuerung.

Zur Erreichung dieses Ziels gibt es gemeinsam mit Brandenburg erste Überlegungen, für Schüler/innen mit Lernschwierigkeiten einen kompetenzorientierten Rahmenlehrplan zu erarbeiten, der die Einbeziehung dieser Schüler/innen in das Leistungsspektrum der Regelschüle/r/innen ermöglicht und eine passgenaue Verbindung zu den in den Rahmenlehrplänen für die allgemeine Schule formulierten Standards herstellt. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur inklusiven Schule ist eine Angleichung der Stundentafeln vom Förderschwerpunkt Lernen an die Stundentafeln der Grundschule und der Integrierten Sekundarschule. Damit werden sowohl die Durchlässigkeit zwischen den Schularten als auch eine größere Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet.

Förderschwerpunkt Emotional-soziale Entwicklung

Definition

Der Begriff emotionale und soziale Entwicklung ist ein Sammelbegriff für Verhaltensauffälligkeiten, die auf unterschiedlichen Ursachen beruhen. Er löst den bisher international üblichen Begriff der Verhaltensstörung ab, der 1950 auf dem ersten Weltkongress für Psychiatrie in Paris eingeführt wurde.

Die Komplexität und Differenziertheit der sich hinter dem Begriff emotionale und soziale Entwicklung verbergenden Störungen wird deutlich, wenn man sich die ICD 10 anschaut.

Dort wird zwischen psychischen Verhaltensstörungen und Verhaltensstörungen aufgrund organischer, toxischer, psychotischer, neurotischer und somatischer Indikation42 unterschieden und den Begriffen der Störung des Sozialverhaltens und der emotionalen Störung, die als „anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens" bzw. als „Verstärkung normaler Entwicklungstrends" verstanden werden.

Damit ist von der WHO systematisiert, was Verhaltensstörung ausmacht. In Ergänzung mit der ICF ergeben sich aus den gesundheitlichen, körperfunktionellen und personellen Problemen bei dieser Diagnose Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Einschränkungen in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Allerdings ist auch die Vielfalt unterschiedlicher Ursachen und der unterschiedliche Schweregrad erfasst, wenn zwischen der Verstärkung eines normalen Entwicklungstrends und z. B. einer psychotischen Störung unterschieden wird.

Betrachtet man den Begriff Verhalten unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen Zugangs der Soziologie, dessen Untersuchungsgegenstand die Handlungsorientierung von Individuen im Rahmen sozialer Gruppen ist, wird er eher unklarer und ist diagnostisch für die Festlegung eines Störungsbildes untauglicher. Die Unterscheidung dessen, was normal und anormal ist, was unauffällig und auffällig ist, bleibt ein Ergebnis von Zuschreibungsprozessen der jeweiligen Gemeinschaft und gibt einer individuellen Auslegung einigen Spielraum.

Ausgangslage in Berlin

Dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung werden in Berlin 13 Prozent der Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zugerechnet. Das ist die drittgrößte Gruppe aller Förderschwerpunkte.

Von 1998/99 bis zum Jahr 2008/09 ist ein kontinuierliches Anwachsen dieses Förderbedarfs von rund 0,35 Prozent auf 1 Prozent aller Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1festzustellen. Diese erheblichen Unterschiede sind nicht mit der sozialen Situation in den Bezirken erklärbar (vgl.Förderschwerpunkt in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg). Sie zeigen vielmehr, dass die Feststellung des Förderschwerpunktes emotionale und soziale Entwicklung sehr unterschiedlich gehandhabt wird. In Marzahn-Hellersdorf ist die Quote der Schüler/innen mit diesem Förderbedarf dreifach höher als in Neukölln.

Die Diagnostik von Problemen im emotional-sozialen Bereich ist als Kind-Umfeld-Diagnostik angelegt und nutzt als wesentliche Beurteilungsgröße die Verhaltensbeobachtung und das Zählen und Gewichten von Vorfällen auffälligen Verhaltens. Da diese Vorgehensweise eine subjektive ist, werden in unterschiedlichem Umfang weitere Kriterien zur Objektivierung der Aussagen und zur Feststellung des Förderbedarfs hinzugezogen.

So ist in einem Bezirk eine Verhaltensbeobachtung durch eine/n Sonderpädagog/en/in für die Feststellung ausreichend, während in einem anderen Bezirk schriftlich niedergelegte sechswöchige Beobachtungstagebücher vorliegen müssen oder aber vor Einleitung eines Feststellungsverfahrens zwei Helferkonferenzen stattgefunden haben müssen. Qualitative Diagnostik ist den Sonderpädagog/inn/en nicht möglich. Diese kann nur von Psycholog/inn/en durchgeführt und muss im Einzelfall ergänzend veranlasst werden. Hinzu kommt, dass valide Diagnosen der unter dem Begriff emotional-soziale Entwicklung zusammengefassten vielfältigen ursächlich zu unterscheidenden Störungsbilder selbst für ausgebildete Sonderpädagog/inn/en eine Herausforderung sind.

Es kann in einem Bezirk z. B. ein hypermotorischer, frecher Schüler Förderbedarf zugesprochen bekommen, während in einem anderen Bezirk ein an einer schweren Persönlichkeitsstörung erkranktes, suizidgefährdetes Kind, das Spuren von Automutilation (Selbstverletzungen) aufweist, ohne Förderbedarf und zusätzliche Hilfe unterrichtet wird, weil es im Unterricht nicht offensichtlich störend auffällt.

Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Unterscheidung zwischen sogenannter „Normalität" und „Anormalität". In der Regel tritt auffälliges Verhalten in Gruppensituationen im Kindergarten oder in der Grundschulklasse erstmals auf. Hier ist es für den Pädagogen, der ein auffälliges Kind erst einmal als belastend und störend empfindet, schwer, zwischen extremen Ausprägungen normaler Entwicklung und wirklichen Störungen zu unterscheiden.

Es ist nicht selten, dass schwierige Kinder, die sich im normalen Entwicklungsspektrum befinden, zurückgestoßen und abgewiesen werden, statt ihnen Zuneigung, Aufmerksamkeit und Verständnis entgegenzubringen. Läuft ein solcher Prozess unreflektiert ab, können sich Verhaltensauffälligkeiten verstärken und zu einem ernsten Störungsbild entwickeln. Um die Schüler/innen in ihrer emotional-sozialen Entwicklung zu voranzubringen, bedarf es der Umsetzung eines professionellen Konzeptes.