dynamische Rente

1. Eine Kapitalabfindung, die der Verletzte statt einer Rente zugesprochen erhält, kann nicht bei wesentlicher Veränderung der für ihre Berechnung maßgebenden Verhältnisse entsprechend § 323 ZPO abgeändert werden.

2. Grundsätze für Berechnung und Schätzung der Höhe einer Kapitalabfindung, insbesondere Berücksichtigung künftiger wirtschaftlicher Veränderungen (u.a. dynamische Rente).

Anmerkung: Grundsätzlich hat der Schädiger dem Verletzten nach § 843 BGB dessen Erwerbsschaden (Verdienstausfall) durch Zahlung einer laufenden Rente zu ersetzen; demgemäß kann der Verletzte nach § 258 ZPO ein Urteil erstreiten, das ihm die künftig fällig werdenden Rentenleistungen wiederkehrend zuspricht. Dabei wird der Richter freilich die Höhe der Renten nach Zeitabschnitten staffeln, wenn er schon bei Erlass seines Urteils voraussehen kann, dass die Rente von einem bestimmten Zeitpunkt an höher oder geringer sein wird (Höherstufungen eines Beamten bzw. statt Gehalt nur noch Pension). Nicht aber kann der Richter mit der erforderlichen Gewissheit voraussehen, ob die Rente angesichts des schwankenden Gehalts- bezw. Lohnniveaus künftig höher oder geringer sein wird. Verdienstausfall ist jedoch dynamisch, so dass das Rentenurteil demnächst der dann eingetretenen höheren oder geringeren Erwerbseinbuße angepasst werden muss. Das aber geschieht nicht schon im Rentenurteil, sondern mittels der Abänderungsklage des § 323 ZPO, die sowohl dem Schädiger wie dem Verletzten offen steht.

Wie aber soll der Richter verfahren, wenn der Verletzte nicht auf fortlaufende Rente klagt, sondern eine Kapitalabfindung verlangt, wie dies § 843 III BGB vorsieht (worauf § 13 II StVG und § 8 II HaftpflG sowie § 38 II LuftVG verweisen; s. auch § 1585 II BGB, früher §6211 EheG)? Zahlung eines einmaligen (meist hohen) Kapitalbetrages mutet das Gesetz dem Schädiger allerdings nicht ohne weiteres zu (Ausnahme in § 640 RVO: Kapitalwert einer Unfallrente), vielmehr muss dem KL ein wichtiger Grund zur Seite stehen. Ob die Voraussetzungen dieses unbestimmten Rechtsbegriffes gegeben sind, hat der Richter nachzuprüfen. Verneint er dies, so spricht er dem KL nur eine laufende Rente zu und braucht sich mit den Schwierigkeiten, die ihm die Bemessung der Kapitalabfindung bereiten würde, nicht zu plagen. Er darf aber nicht, weil er sich dieser Mühe entziehen will, die vom KL angeführten Gründe nicht für genügend wichtig ansehen: sind diese im Sinne des Gesetzes wichtig, so kann nicht nur der Richter, sondern muss ihm eine Abfindung zusprechen (dazu, was wichtige Gründe sind, s. Schlund, VersR 1981, 4Ö1 ff.). Zu der Frage, wie die Höhe der Abfindung zu ermitteln (zu berechnen und zu schätzen) ist, enthält das neue BGH-Urteil zwei für die Praxis bedeutsame Rechtssätze: einmal zur Anwendbarkeit des § 323 ZPO auf ein Abfindungsurteil und zum anderen zur Methode der Ermittlung der Abfindungshöhe.

I. Der Kapitalwert einer Rente soll - so nach der Theorie - so hoch sein, dass der Verletzte während der voraussichtlichen Laufzeit der Rente aus dem Kapital, vermehrt um dessen Zinserträge, die an sich geschuldeten fortlaufenden Renten beziehen kann. Welche Renten aber künftig an sich geschuldet werden, kann der Richter nur sagen, wenn er zur künftigen Entwicklung sowohl der Lebensumstände des Verletzten wie vor allem der wirtschaftlichen Daten Voraussagen macht - also das Wagnis von Prognosen unternimmt. Diese sind aber mit umso größeren Unsicherheiten behaftet, je länger die Zeiträume sind, die sie umfassen sollen. Ersichtlich ist das Risiko, dass sich die Abfindung später als viel zu gering oder als viel zu hoch herausstellt, einer Abfindung immanent. Es würde indes den Gläubiger bezw. den Schuldner nicht sehr belasten, wenn dem Richter gestattet wäre, seinem Abfindungs-Urteil nur Prognosen zugrunde zulegen, die einigermaßen wahrscheinlich sind - dagegen künftige Entwicklungen, die er kaum mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussehen kann, einem späteren Abänderungsurteil nach § 323 ZPO vorzubehalten. Das aber hat der BGH verneint.

Eine unmittelbare Anwendung des § 323 ZPO scheidet von vorneherein aus, weil nicht auf Zahlung künftig fällig werdender wiederkehrender Leistungen verurteilt worden war, sondern auf Zahlung eines einmaligen Kapitalbetrages; dass die Gründe dieses Urteils auf einer Berechnung der auf Jahre hinaus zu zahlenden Rentenleistungen beruht, macht § 323 ZPO nicht anwendbar. In Betracht kommen könnte allenfalls eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift. Das hatte aber schon das RG abgelehnt (RGZ 73, 418 [420]; 106, 398); dem stimmte lange Zeit die allgemeine Meinung zu. Eine Abfindung in Kapital ist eben mehr als eine bloße rechnerische Zusammenfassung künftig fällig werdender Renten (Kapitalwert von statischen Renten); Sie ist eine Abfindung in Kapital, wie § 843 III BGB formuliert. Es liegt aber im Wesen einer Abfindung, dass sie Elemente eines Vergleichs, wenn auch vom Richter den Parteien sozusagen oktroyiert, enthält. Wer statt laufender Renten, die nach § 323 ZPO künftig notfalls erhöht werden können, die Abfindung der Renten in Kapital wählt, nimmt das Risiko in Kauf, dass die für ihre Berechnung eingesetzten Faktoren auf unsicheren Prognosen und auch bloßen Schätzungen beruhen. In der Wahl der Abfindung durch den Verletzten liegt dessen Verzicht darauf, dass künftige Veränderungen seiner persönlichen (oft: gesundheitlichen) und wirtschaftlichen Verhältnisse später nicht berücksichtigt werden. Andererseits darf sich und muss sich der Schädiger, der (vielleicht gegen seinen Willen) zu einer Abfindung verurteilt worden ist, darauf verlassen, dass mit der Auszahlung der Abfindung die Sache für ihn erledigt ist; denn auch die für ihn bestehenden Ungewissheiten sind, und dies häufig zu seinen Lasten, in die Ermittlung der Abfindungssumme eingeflossen.

Dass § 323 ZPO nicht auf ein Abfindungs-Urteil angewandt werden kann, ist auch heute noch die Ansicht nahezu aller Praktiker-Kommentare, die seit Jahrzehnten in fortlaufenden Auflagen erscheinen (vgl. z.B. Boujong, in: RGRK zum BGB, 12. Aufl. 1981, § 843 Rdnr. 231; s. auch den alt eingeführten ZPO-Kommentar von Stein-Jonas-Schumami-Leipold, 19. Aufl., § 323 Anm. II 1). Erstaunlicherweise haben jetzt jüngere (modernere) Kommentatoren geglaubt, die Abänderungsklage auch gegen Abfindungsurteile in entsprechender Anwendung des § 323 ZPO zulassen zu können - ohne sich mit dem Wesen einer Abfindung auseinanderzusetzen (so z. B. Hartmann in: Baumbach-Lauterbach, Vollkommer und Putzo, auch Mertens im neuen MünchKomm.). Dem ist der BGH in dem neuen Urteil mit Recht entgegengetreten (so auch die Entschließung des 19. Deutschen Verkehrsgerichtstages 1981 - Saiger in: DRiZ 1981, 133, [136/137]).

II. Der BGH war sich dessen bewusst, dass er mit dieser Entscheidung der Praxis eine schwierige Aufgabe aufbürdete. Denn er verlangt von dem Richter, der den vom Kläger geltend gemachten wichtigen Grund anerkennt (anerkennen muss), bei der Ermittlung des Abfindungsbetrages alle möglichen zukünftigen Entwicklungen zugunsten und zulasten des KL zu berücksichtigen und je nach ihrem Gewicht in die Höhe der Urteilssumme einfließen zu lassen. Der BGH sagt zwar ausdrücklich, dass es letztlich um eine Schadensschätzung nach § 287 ZPO geht, so dass der Richter nach den für diese Vorschriften geltenden Grundsätzen weitgehend freier gestellt ist als beim Strengbeweis. So wie aber der Richter auch bei einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO gewisse Grundsätze der Schadensberechnung einzuhalten hat, so auch - und erst recht - bei der Berechnung und Schätzung desjenigen Kapitalbetrages, mit dem der Verletzte endgültig abgefunden werden soll. Der BGH hat sich daher bemüht, das, was er dem Tatrichter durch die Unanwendbarkeitserklärung des § 323 ZPO genommen hat, dadurch in etwa zurückzugeben, dass er Grundsätze - zunächst für die Berechnung und dann für die abschließende Schätzung - der Höhe der Kapitalabfindung aufgestellt hat. Zu dem Verfahren, wie diese zu ermitteln ist, gibt es bisher fast keine Rechtsprechung (nur Oberlandesgericht München, VersR 1958, 249); auch die Kommentare geben dazu fast nichts her. Gewiss erschöpfen die Ausführung des neuen BGH-Urteils die vielschichtigen Probleme der Kapitalabfindungs-Höhe nicht, indes ist zu hoffen, dass die Praxis mit diesen Grundsätzen zu arbeiten verstehen wird (anders Schmid, DAR 1981, 129: der BGH habe Steine statt Brot gegeben; s. auch die Kritik von Nehls, VersR 1981, 286).

1. Das Urteil stellt zunächst die Methode dar, mit welcher der Richter die Höhe der Abfindung rechnerisch, also noch weitgehend ohne Schätzung, zu ermitteln hat.

Als erstes muss er die Höhe des (jährlichen) Verdienstausfalls des Klägers feststellen, dessen Jahresbetrag dann zu kapitalisieren ist. Dazu wird er die (auf den Allgemeinen Deutschen Sterbetafeln mit der durchschnittlichen Lebenserwartung fußenden) Kapitalisierungstabellen benutzen, die die Versicherungsmathematiker für den Gebrauch der Versicherungswirtschaft aufgestellt haben (z.B. in: Geigel, Haftpflichtprozess, 17. Aufl., Kap. 4 Rdnr. 184; vgl. Schneider, VersR 1981, 493ff.; lllOff.). Die hier errechneten Kapitalisierungsfaktoren beruhen allerdings auf allgemeinen Durchschnittswerten. Dieser ist aber bei der dem verletzten KL zuzusprechenden Summe nicht unbesehen zu übernehmen, vielmehr sind dessen individuellen Verhältnisse in Betracht zu ziehen. Schon insofern kann also der jeweils zu entscheidende Fall eine Korrektur des Kapitalisierungsfaktors nach oben oder unten nahelegen.

Von ganz besonderer Bedeutung ist die Wahl des „Abzinsungsfaktors (5% oder 5,5% oder gar 6%), für den das Zinsniveau auf dem Kapitalmarkt eine maßgebende Rolle spielt (Geigel, Haftpflichtprozess, 17. Aufl., Kap. 4 Rdnr. 184 legt nur einen Zinsfuß von 5% zugrunde, während bei Becker, Kraftverkehrshaftpflichtschäden, 14. Aufl., III D S. 255ff. die Kapitalisierungsfaktoren nach Zinssätzen von 4%, 5%, 5,5% und 6% sowie von 7% abgedruckt sind). Je höher der Abzinsungsfaktor, umso weniger Kapital bekommt der KL Da eine Prognose der künftigen Zinsentwicklung höchst unsicher ist, wird der Richter - je nach der Länge der zu kapitalisierenden Rentenzahlungen - letztlich doch schätzen müssen, welchen Abzinsungsfaktor er in seine Rechnung einstellt. Deshalb sagt der BGH ausdrücklich, dass die üblichen Abzinsungsfaktoren für den Richter nicht mehr als ein erster Anhaltspunkt sind (vgl. schon Schlund-Schneider, VersR 1976, 211 und auch 1976, 807ff.). Weil die künftige Zinshöhe auf dem Kapitalmarkt in gewisser Korrelation zum künftigen Preis- und Lohnniveau steht, schlägt sich in dem Abzinsungsfaktor bereits ein Stück der dynamischen Rente nieder; so geht leicht die Steigerung der Nominallöhne mit dem Ansteigen des Zinsniveaus einher. Ob aber eine reale Steigerung der Löhne, der Gehälter usw. zu erwarten ist oder ob es umgekehrt zu realen Einkommenseinbußen kommen wird, läßt sich nicht sicher vorhersagen. Jedenfalls ist der Rückgriff auf die letzten Jahre mit ihrer stetigen Aufwärtsentwicklung, also die Fortschreibung der Daten der Vergangenheit, nicht (mehr) zulässig; das gehe, so sagt der BGH, angesichts der dramatischen Veränderungen der Weltwirtschaftslage nicht an - eine pessimistische Prognose, deren Richtigkeit die inzwischen eingetretene Entwicklung bestätigt hat.

2. Hat so der Richter durch eine Berechnung einen Ausgangsbetrag der Abfindungssumme ermittelt, so muss er wegen des endgültig zuzusprechenden Betrages zur Schätzung gemäß §287 ZPO greifen, indem er versucht, die künftige Entwicklung des Lohn- und Gehaltsgefüges einerseits (soweit nicht beim Abzinsungssatz schon eingeflossen), der Lebenshaltungskosten andererseits vorauszukalkulieren, um dann, je nach dem Ergebnis seiner Prognosen, das rechnerisch gewonnene Ergebnis durch Zu- oder Abschlage nach oben oder unten zu korrigieren. In diese abschließende Schätzung muss er alle künftigen Veränderungen des Lohn- und Gehaltsniveaus, der Gewinne der gewerblichen Wirtschaft, der Einkünfte der Freiberufler usw. einfließen lassen. Dabei spielen nicht nur zu erwartende reale Einkommenserhöhungen eine Rolle, sondern auch nominelle Erhöhungen, die lediglich einen Inflationsausgleich enthalten. Das Interesse daran, die Währung möglichst stabil zu halten, kann nicht dazu führen, dem Verletzten den gerechten Ausgleich seines künftigen Verdienstausfallschadens zu verkürzen. Erst recht darf nicht berücksichtigt werden, dass durch Zubilligung hoher Abfindungssummen die Haftpflichtversicherer, d. h. die Versichertengemeinschaft, stärker belastet werden.

Das Urteil befasst sich auch mit der Frage, inwieweit steuerliche Auswirkungen (Brutto oder Netto - dazu VI ZR 2/79 vom 26. 2. 1980 in LM § 249 [Hd| BGB Nr. 27) bei Berechnung der Abfindungssumme zu berücksichtigen sind. Dabei handelt es sich um höchst diffizile und kaum befriedigend zu lösende Fragen; insofern muss hier auf das Urteil verwiesen werden.