Rechte des Nachbarn

Auch die vom BVerwG vorgenommene Differenzierung in einfache und damit nicht in die Rechte des Nachbarn eingreifende Auswirkungen des Bauvorhabens und in qualifizierte, d. h. den Nachbarn schwer und unerträglich treffende Eigentumsbeeinträchtigungen, wobei nur letztere Nachbarschutz vermitteln ist nicht überzeugend. Wenn Art. 14 Abs. 1 GG aus den unter Rn. 69 dargelegten Gründen einer Konkretisierung und Ausfüllung durch den Gesetzgeber bedarf; um ein subjektives Abwehrrecht zu begründen, dann muss dieser Grundsatz auch gelten, wenn es sich um besonders intensive Eingriffe in den Freiheitsraum des Bürgers handelt. Im Übrigen besteht für einen nachbarlichen Abwehranspruch aus Art.14 GG auch bei schweren und unerträglichen Eingriffen kein praktischer Bedarf, weil in derartigen Fällen durchweg das Gebot der Rücksichtsnahme verletzt ist.

Nachbarschutz aus Art.2 GG. Die in Art.2 Abs.l GG verankerte allgemeine Handlungsfreiheit vermittelt nach Ansicht des BVerwG keinen Nachbarschutz, weil dadurch nicht die für einen Schutzanspruch erforderliche rechtliche Beziehung zwischen dem Bauvorhaben und seiner Umgebung geschaffen werde; Art.2 Abs. 1 GG setze eine solche Rechtsbeziehung vielmehr voraus. Es sei Sache des Gesetzgebers, die erforderliche Rechtsbeziehung zu begründen, indem er bestimmte Personen im Verhältnis zur Tätigkeit anderer Personen mit subjektiven Rechten ausstatte. Daher könne ohne nähere gesetzliche Konkretisierung auch ein sog. Umweltgrundrecht als Grundlage einer Nachbarklage nicht anerkannt werden. Ein Nachbarschutz aus Art.2 Abs. 1 GG wird auch von beinah der gesamten Literatur abgelehnt.

Demgegenüber begründet Art.2 Abs. 2 GG nach dem zitierten Urteil des BVerwG vom 29.7. 1977 Nachbarschutz, weil Leben und Gesundheit nicht weniger geschützt sind als das Eigentum. Das BVerwG weist dabei aber darauf hin, dass es noch weiterer Klärung bedürfe, wann überhaupt eine Störung der Grundrechte aus Art.2 Abs. 2 GG gegeben sei, die einer Nachbarklage zum Erfolg verhelfen könne. Die Literatur hat dieser Rechtsprechung durchweg zugestimmt. Der Schutzbereich des Art.2 Abs. 2 GG ist durch den Beschluss des BVerfG vom 14.1. 1981 näher konkretisiert worden Danach stellen sich jedenfalls Eingriffe in den menschlichen Körper und solche Einwirkungen, die zwar unmittelbar nur den seelisch-geistigen Bereich berühren, aber mittelbar auch für das körperliche Wohlbefinden Folgen haben, als Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit dar. Es ist deshalb im Wesentlichen ein medizinisches Problem, die Grenze der Störung des körperlichen Wohlbefindens zu ermitteln, von der an eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit zu bejahen ist. Wenn ein solcher Tatbestand vorliegt, dann muss ein Abwehrrecht des Nachbarn grundsätzlich bejaht werden, denn das Grundrecht des Art.2 Abs. 2 GG hat einen so hohen Stellenwert, dass demgegenüber das Interesse des Bauherrn an einer wirtschaftlich zweckmäßigen Grundstücksnutzung zurücktreten muss. In der Praxis der Baugenehmigungsbehörden und Verwaltungsgerichte spielt der Nachbarschutz aus Art.2 Abs. 2 GG freilich keine große Rolle, weil der Schutzbereich des Art.2 Abs. 2 GG bereits vom BImSchG erfasst wird und die in §§5, 22 BImSchG normierte Schwelle der schädlichen Umwelteinwirkungen bereits deutlich unterhalb einer Gesundheitsbeeinträchtigung anzusetzen ist; für §3 Abs. 1 BImSchG reicht bereits eine erhebliche Belästigung oder ein erheblicher Nachteil aus.

Das Gebot der Rücksichtnahme. Die Rechtsprechung des BVerwG nahm in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des BBauG an, dass ein Nachbarschutz nur bei der Verletzung nachbarschützender Normen eines Bebauungsplans, nicht aber im nichtgeplanten Innenbereich oder im Außenbereich gewährt werden könne. Im nichtbeplanten Innenbereich und im Außenbereich kam ein Schutz des Nachbarn nur in Betracht, wenn er sich auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen konnte, weil sein Grundstück durch das Bauvorhaben des Nachbarn schwer und unerträglich beeinträchtigt wurde. Zur Lösung dieser allseits als unbefriedigend empfundenen Situation hat das BVerwG im Anschluss das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme herangezogen. Es ging in diesem Rechtsstreit um die Errichtung einer Schweinemastanstalt im Außenbereich in unmittelbarer Nachbarschaft von vier Einfamilienhäusern. Da § 35 Abs. 2 aus den oben dargelegten Gründen nicht als nachbarschützend angesehen wird und die zu erwartende Geruchsbelästigung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts noch unterhalb der Schwelle eines schweren und unerträglichen Eingriffs in das Eigentum lag, hätte die Nachbarklage der Eigentümer der Einfamilienhäuser eigentlich abgewiesen werden müssen. Das BVerwG hat gleichwohl eine Verletzung von Rechten der Nachbarn für möglich gehalten und dabei ausgeführt: Vorhaben im Außenbereich können, mag es sich um privilegierte oder um sonstige Vorhaben handeln, deshalb genehmigungsunfähig sein, weil sie auf die Interessen anderer nicht genügend Rücksicht nehmen. Dem lässt sich nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass nach dem Wortlaut des §35 BBauG lediglich das Entgegenstehen öffentlicher Belange die Unzulässigkeit eines Vorhabens begründen kann. Das Gebot der Rücksichtnahme auf schutzwürdige Individualinteressen steht zu den öffentlichen Belangen nicht im Gegensatz. Vielmehr ist dieses Gebot zugleich ein öffentlicher Belang im Sinn des § 35 abs. 3 BBauG. Das unterliegt umso weniger Zweifel, als die Neufassung des § 35 Abs. 3 BBauG nunmehr ausdrücklich als eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange wertet, wenn ein Vorhaben schädliche Umwelteinwirkungen hervorrufen kann. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, um so mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dabei muss allerdings demjenigen, der sein eigenes Grundstück in einer sonst zulässigen Weise baulich nutzen will, insofern ein Vorrang zugestanden werden, als er berechtigte Interessen nicht deshalb zurückzustellen braucht, um gleichwertige fremde Interessen zu schonen. Das BVerwG stellt dann klar, dass die dem Nachbarn im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme zumutbare Beeinträchtigung nicht identisch ist mit dem enteignungsrechtlichen Begriff der Unzumutbarkeit, sondern auf das abzustellen ist, was dem Nachbarn unter Berücksichtigung der jeweiligen Verhältnisse des Einzelfalls billigerweise nicht zugemutet werden kann. Die Anforderung an die Beeinträchtigung des Nachbarn liegt vom Grad der Intensität her deutlich unterhalb der schweren und unzumutbaren Beeinträchtigung im Sinn des Enteignungsrechts.