Sachverständigenbeweis

Zur Frage, inwieweit sich der Richter seine Überzeugung unter Verzicht auf Sachverständigenbeweis bei einem ihm nicht von Haus aus vertrauten Sachgebiet durch Benutzung der Fachliteratur bilden darf.

Zum Sachverhalt: Der Kläger, früher praktischer Arzt, begab sich 1967 im Alter von 56 Jahren wegen einer schweren phlegmonösen Entzündung des rechten Oberschenkels in ein Krankenhaus, dessen Chefarzt der Beklage ist. Dieser operierte ihn, wobei sich viel übel riechender Eiter entleerte. Obwohl Leucomycin gegeben wurde, breitete sich die Entzündung aus. Aus diesem Grunde operierte der Beklage den Kläger erneut, wobei sich wiederum der gleiche übel riechende Eiter entleerte. Es mussten Gummidrainagen angebracht werden und es entstand nekrotisches Gewebe, dass die Gefahr einer Sepsis begründete. Eine Keimaustestung ergab, dass es sich bei den Erregern der Entzündung um pseudomonas pyocyanea handelte. Diese Erreger erwiesen sich als nur durch die Mittel Colymycin, Polymycin B, Neomycin und Kanamycin beeinflussbar, die sämtlich in hohen Dosen verabreicht schädigende Auswirkungen auf den Organismus zur Folge haben. Der Beklagten entschied sich für eine Gabe von 2 g Kanamycin täglich. Gleichwohl blieb die Entzündung bestehen. Eine solche trat auch am linken Oberarm auf. Wiederum trat dickflüssiger, übel riechender Eiter zutage.

Der Kläger erhielt mindestens 48 g Kanamycin, nach seiner eigenen zeitweiligen Darstellung jedoch insgesamt 58 g. Dem Beklagten war aufgrund der medizinischen Literatur bekannt, dass Kanamycin in hohen Dosierungen vor allem bei älteren Patienten schädliche Wirkungen, insbesondere irreversible Gehörschädigungen zur Folge haben kann. Tatsächlich ist der Kläger im Anschluss an die Behandlung auf einem Ohr völlig ertaubt und hat auf dein anderen Ohr eine an Taubheit grenzende Innenohrschwerhörigkeit erlitten. Er übt seinen Arztberuf seitdem nicht mehr aus.- Der Kläger hält die Behandlung mit Kanamycin für an sich verfehlt und für unvertretbar hoch dosiert. Er verlangt Ersatz seines Verdienstausfalles und Zahlung eines Schmerzensgeldes. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers war erfolglos. Seine Revision war erfolglos, soweit sie die Abweisung seines Schmerzensgeldanspruchs angreift. Wegen des Verdienstausfalls führt sie zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen: Ansprüche aus unerlaubter Handlung.

Die Abweisung des Schmerzensgeldanspruchs wird jedenfalls durch die vom Berufsgericht bejahte Verjährung gerechtfertigt, § 852 BGB.

Ansprüche aus Verletzung des ärztlichen Behandlungsvertrages.

Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung scheiden nicht etwa schon deshalb aus, weil der Beklagten gegenüber dem Kläger für seine Bemühungen nach ärztlichem Brauch nicht liquidiert hat. Wer als Arzt die beruflichen Dienstleistungen eines anderen Arztes in Anspruch nimmt, will im Zweifel auch dann einen Behandlungsvertrag üblichen Inhalts schließen, wenn sich beide darüber im Klaren sind, dass der Behandelnde kein Honorar fordern werde. Von einem bloßen, für den behandelnden Arzt weithin unverbindlichen Gefälligkeitsverhältnis auszugehen, würde den berechtigten Belangen des Patienten nicht gerecht, dem in der Regel der Anspruch auf volle ärztliche Sorgfalt und entsprechenden Ersatzanspruch bei ihrer Verletzung wichtiger sein wird, als ein in Aussicht stehender Honorarverzicht. Übrigens legt schon die große Zahl von Grenzfällen, in denen der - vorweg praktisch nie ausdrücklich besprochene - Honorarverzicht mindestens nicht von vornherein selbstverständlich ist die rechtliche Deutung dahin sehr viel näher, dass zunächst ein üblicher entgeltlicher Arztvertrag abgeschlossen wird, der Behandelnde dann aber nachträglich übungsgemäß auf die Geltendmachung seiner reinen Dienstleistungsvergütung verzichtet. Jedenfalls spricht nichts dafür, dass in solchen Fällen ein reines Gefälligkeitsverhältnis ohne Vertragscharakter gewollt ist. Auch erscheint es abwegig, anzunehmen, dass die vertraglich geschuldete Sorgfalt auf eine geringere Stufe, etwa die eigenübliche und damit praktisch auf das Verbot grober Fahrlässigkeit reduziert sei. Richtigerweise muss - vorbehaltlich einer ausdrücklichen abweichenden Vereinbarung - davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt unteilbar sind. Übrigens ist auch die Rechtsprechung bisher mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass bei der Gratisbehandlung von ärztlichen Kollegen und deren Angehörigen die üblichen Anforderungen an die dem Arztvertrag entspringende Sorgfaltspflicht weder entfallen noch abgeschwächt werden. Damit ist auch für den vorliegenden Fall von dem Bestehen vertraglicher Schadensersatzansprüche des Kläger auszugehen, soweit der Beklagten bei dessen Behandlung den allgemeinen Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt nicht gerecht geworden sein sollte.

Der Kläger leitet solche Schadensersatzansprüche aus Verletzung des Behandlungsvertrags, insbesondere aus dem Vorwurf gegen den Beklagten her, dieser habe unter den in Frage kommenden Antibiotika das Mittel Kanamycin zu Unrecht ausgewählt und überdies zu stark dosiert. Darauf führt er nicht nur seinen an Taubheit grenzenden Gehörschaden, sondern auch noch eine minder bedeutende Nervenschädigung am linken Arm zurück.

Auch das Berufsgericht geht davon aus, dass der jedenfalls weitaus gravierendere Gehörschaden eine Folge der Behandlung mit Kanamycin ist. Es meint jedoch, dem Beklagten könne insoweit kein Verstoß gegen die schuldige Sorgfalt vorgeworfen werden. Dabei stützt sich das Berufsgericht, das ebenso wie das Landgericht zu dieser Frage keinen eigenen Sachverständigenbeweis erhoben hat, auf die - sonach Urkundenbeweisliche - Verwertung eines Gutachtens von Ärzten der Chirurgischen Klinik einer Universität, das im Zuge eines auf Betreiben des Kläger eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gegen den Beklagten erhoben worden ist. So kommt das Berufsgericht zu dem Ergebnis, dass dem Beklagten hinsichtlich der Medikation ein Vorwurf nicht zu machen sei. Es führt aus: Nach dem Antibiogramm sei der beim Kläger ermittelte Erreger nur gegen Polymycin B, Neomycin, Colymyxin und Kanamycin empfindlich gewesen. Die Entscheidung für Kanamycin sei richtig gewesen. Zwar bezeichne das Gutachten die sonst in Betracht kommenden Antibiotika nur als nicht ungefährlicher als Kanamycin. Das Berufsgericht wägt aber an Hand der ihm von dem Beklagten in der Schlussverhandlung vorgelegten Antibiotikafibel von Walter-Hatemeier selbst die dort beschriebenen Vorteile und Gefahren der in Frage stehenden Mittel ab und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Kanamycin den Vorzug verdient habe, wenn auch damals Colistin bei Bekämpfung eines Befalls durch den Erreger pseudomonas pyocyanea als das Mittel der Wahl gegolten habe. Dem stehe nämlich entgegen, dass sich im Falle des Kläger eine Empfindlichkeit auch gegenüber Kanamycin ergeben habe. Das Berufsgericht hat angesichts dessen geglaubt, auf einen Sachverständigenbeweis im gegenwärtigen Rechtsstreit verzichten zu können.

Der Revisionsangriff gegen dieses Verfahren des Berufsgerichts erscheint nicht unbegründet.