Schutznormtheorie

Dem Nachbarn steht ein Abwehranspruch gegen ein von ihm als störend empfundenes Bauvorhaben nur zu, wenn er sich auf die Verletzung einer speziell seine Interessen schützenden Rechtsvorschrift stützen kann. Dies folgt aus §113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach eine Anfechtungsklage erst begründet ist, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Das BVerwG hat in mehreren grundsätzlichen Urteilen klargestellt dass eine Verletzung von Rechten des Nachbarn nur dann angenommen werden kann, wenn die Baugenehmigung gegen eine Baurechtsnorm verstößt, die zumindest teilweise, d. h. neben anderen Zwecken, auch dem Schutz der rechtlichen Interessen des Nachbarn dienen soll. Dies ist nach der zitierten Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn zwischen den von der Norm betroffenen Grundstückseigentümern erkennbar eine rechtliche Verbindung bestehen soll in dem Sinne, dass ihnen als Ausgleich für die auferlegte Beschränkung in der Nutzung ihres Grundstücks ein Abwehrrecht gegen eine Mißachtung der Norm eingeräumt wird; das BVerwG hat dies in der zitierten Entscheidung z.B. bei der Festsetzung von Abstandsflächen sowie bei der Ausweisung bestimmter Baugebiete bejaht. Die den Nachbarschutz begründende Verbundenheit der Grundstückseigentümer wurde zutreffend als Austauschverhältnis bezeichnet; das BVerwG spricht von einer bau- und bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft.

Diese Rechtsansicht ist seitdem ständige Rechtsprechung aller Verwaltungsgerichte und wird auch von dem größten Teil der Literatur vertreten. Schlichter hat dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei der Schutznormtheorie nicht primär auf die für die Erteilung der Baugenehmigung maßgebliche Norm ankommt, sondern letztlich darauf, ob der Nachbar eine eigene, normativ geschützte Rechtsposition in das Baugenehmigungsverfahren einbringen kann; diese geschützte Rechtsposition kann sich aus einfach gesetzlichen Bestimmungen, aber auch aus den Grundrechten ergeben.

Eine grundsätzlich abweichende Konzeption hat nur das OVG Münster entwickelt; danach hat jede Norm des materiellen Baurechts potentiell nachbarschützende Wirkung. Die baurechtlichen Normen bestimmen nämlich, was der Bauherr dürfe und was ihm an Bindungen auferlegt sei; damit sei zugleich aber auch festgelegt, was der Nachbar hinzunehmen habe und was ihm nicht mehr zugemutet werden könne. Das BVerwG ist dieser Rechtsansicht mit der zutreffenden Erwägung entgegengetreten, es gebe zahlreiche baurechtliche Vorschriften, die nur öffentlichen Belangen dienten. So kommt z.B. ein Nachbarschutz wegen Beeinträchtigung des Ortsbilds oder der Belange des Natur- und Landschaftsschutzes nicht in Betracht. Sie stützen den Abwehranspruch des Nachbarn unmittelbar auf die Grundrechte; für das Baunachbarrecht ist also Art. 14 Abs. 1 GG die maßgebliche Schutznorm. Der Nachbar brauche im Rahmen der Inhaltsbestimmung des Eigentums durch die Gesetze nur solche Bauvorhaben hinzunehmen, die den maßgeblichen Rechtsvorschriften entsprechen. Der Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG ist jedoch kein geeigneter Weg, die Nachbarklage materiell-rechtlich zu verankern. Voraussetzung hierfür wäre, dass feststeht, welche Befugnisse Art. 14 Abs. 1 GG dem Nachbarn zur Abwehr einer von einem anderen Bauvorhaben ausgehenden Beeinträchtigung einräumt. Das ist jedoch nur in eingeschränktem Umfang der Fall. Das entscheidende Kriterium für den Nachbarschutz baurechtlicher Normen ist es, wenn eine Vorschrift dem Ausgleich widerstreitender oder auch teilweise paralleler Interessen der Grundstückseigentümer dient; es ist das Verdienst von Sendler, hierauf besonders hingewiesen zu haben. Ein typisches Beispiel für diesen Interessenausgleich sind die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die zulässige Nutzungsart: Alle Grundstücke im Gebiet des Bebauungsplans unterliegen denselben Beschränkungen mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen; das bei der Ausweisung eines Wohngebiets von einem Grundstückseigentümer als Nachteil empfundene Verbot der Errichtung eines Gewerbebetriebs korrespondiert mit dem Vorteil für andere, eine ruhige Wohnlage genießen zu können. Diese Ausgleichsfunktion findet sich aber nicht nur bei den Festsetzungen eines Bebauungsplans, sondern bei allen baurechtlichen Vorschriften, bei denen der Nachteil der betroffenen Grundstückseigentümer hinsichtlich der Beschränkung der eigenen Baufreiheit verbunden ist mit dem Vorteil, dass andere Grundstückseigentümer in der Umgebung in derselben Weise in ihrer Bebauungsmöglichkeit beschränkt sind. Dieser Ausgleich privater Interessen in Form einer alle Grundstückseigentümer zugleich belastenden und begünstigenden Regelung ist somit das maßgebliche Kriterium für den Nachbarschutz baurechtlicher Vorschriften. Baurechtliche Bestimmungen, die nur öffentlichen Belangen oder nur dem Schutz der Bewohner des Bauvorhabens selbst dienen, wären auch dann sinnvoll, wenn es keinen Nachbarn gäbe. Die oben angesprochene Ausgleichsfunktion baurechtlicher Vorschriften setzt dagegen voraus, dass das Bauvorhaben Auswirkungen auf andere Grundstücke und ihre Bewohner hat; ein Ausgleich in diesem Sinn bedeutet die wechselseitige Beschränkung der Nutzungsmöglichkeit der Grundstücke zur Erzielung einer für alle zumutbaren städtebaulichen Lösung. Daraus folgt, dass es zumindest ein Indiz für die nachbarschützende Wirkung einer Vorschrift ist, wenn ihre Einhaltung erst durch das Vorhandensein von Nachbarn sinnvoll wird.